Johannisthal bei Windischeschenbach
04.03.2020 - 17:20 Uhr

Afghanistan besser verstehen

Am Ende des Vortrags gibt es stehenden Beifall. Reinhard Erös hat seine Zuhörer überzeugt. Mehr als drei Stunden haben sie dem Afghanistan-Experten zugehört.

Reinhard Erös. Bild: Bühner
Reinhard Erös.

„In Afghanistan gibt es zwar steigende Schülerzahlen, aber der Anteil von Schülern an allen Kindern und Jugendlichen ist gesunken“, stellte Reinhard Erös in seinem Vortrag über Afghanistan im Haus Johannisthal bei Windischeschenbach fest. Es war nicht die einzige kritische Bemerkung über Afghanistan-Politik Deutschlands und der Nato, die an diesem Tag zu hören war.

Auch die Berichterstattung in den Medien kam bei ihm nicht gut weg, wenn Erös zum Beispiel feststellte, dass viele Journalisten über Afghanistan berichten würden, obwohl sie noch nie dort waren. Der Vortrag des Mediziners, Afghanistan-Experten und Gründer der Kinderhilfe Afghanistan widmete sich dem Thema „Bildungs- und Friedensarbeit für Afghanistan – Erfahrungen aus 35 Jahren am Hindukusch“.

„Ich möchte ansprechen, was nicht in den Zeitungen zu lesen ist“, sagte Erös. Falsch sei das Wort „Lügenpresse“, eher könne man von einer „Lückenpresse“ sprechen. Seit vierzig Jahren herrsche in Afghanistan Krieg, „der längste und der teuerste Krieg der Geschichte überhaupt“. Begonnen habe alles mit dem Versuch der damaligen Sowjetunion, Afghanistan unter kommunistische Herrschaft zu stellen. Der Krieg gegen eine vermeintlich übermächtige Rote Armee hat den friedlichen und einst vom Buddhismus geprägten islamischen Staat Afghanistan tief erschüttert. Aber auch dieser Armee sei es genauso wenig wie allen anderen Armeen in der Geschichte nicht gelungen, Afghanistan zu erobern.

Anschließend folgte ein Vakuum, in dem die Taliban so etwas Ähnliches wie einen Gottesstaat errichten wollten. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2011 sei für die Nato der Kriegsfall ausgerufen worden, obwohl sich unter den Attentäter kein einziger Afghane befunden hätte. „Afghanische Muslime mögen Araber nicht“. Zeitweilig seien bis zu 160 000 Nato-Soldaten in Afghanistan gewesen. Alleine Deutschland habe dieser Einsatz sechzig junge Soldaten und einen zweistelligen Milliardenbetrag gekostet. Die Logistik, zum Beispiel die Energiebereitstellung für die Soldatenunterkünfte, machte diesen Krieg so teuer.

„Wie sollte das Land stabilisiert werden, wenn keiner der Soldaten die dortigen Sprachen kennt?“, fragte Erös. Selbst die Afghanen untereinander würden sich oft nicht verstehen. Berichtet wurde im Vortrag über Drohnen der Nato mit vielen zivilen Opfern mit Kindern und das Hauptproblem Korruption, das zu „mehr Milliardären als in Deutschland“ geführt habe. Der Journalist Martin Gerner habe an einem Fallbeispiel aufgedeckt, dass von 80 Millionen Euro deutscher Entwicklungshilfe nur 24 Millionen tatsächlich in Projekte geflossen seien. UNICEF habe im Jahre 2015 festgestellt: „Afghanistan ist der schlimmste Platz für Kinder.“ Siebzig Prozent aller Kinder unter 12 Jahren arbeiteten sechs Mal in der Woche zehn Stunden pro Tag. Das durchschnittliche Tageseinkommen liege bei drei US-Dollar. Weil es in Afghanistan keine Sozialpolitik gibt, „brauchen die Familien Kinder“, sagt Erös. 61 Prozent der Afghanen seien unter 16 Jahren. 55 Prozent davon könnten weder lesen noch schreiben. Kinder seien zu 41 Prozent unterernährt. 68 Prozent der Bevölkerung habe keinen Zugang zu klinischer Versorgung und 90 Prozent zu elektrischem Strom. Dieser Hintergrund erkläre, dass Deutschland „als Paradies“ betrachtet wird. „Ich bin jährlich fünf Mal in Afghanistan und Pakistan“. Erös, der am Bildungstag des Kolping Kreisverbands Tirschenreuth sprach, stellte „Kinderhilfe Afghanistan“ vor, die zwischenzeitlich „Europas größte Hilfsorganisation in Afghanistan“ ist.

 
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