Mehr als 100 Jahre lang war das Rösch-Anwesen für Reisende, die am Bahnhof aus dem Zug stiegen, praktisch der erste Eindruck von Neukirchen. Nach langem Leerstand und mangelndem baulichen Unterhalt befand es sich zuletzt in einem beklagenswerten Zustand. Vor mehr als zwei Jahren hatte die Gemeinde das Anwesen erworben und jüngst an einen Investor veräußert.
Zwar stand das stattliche, weiß getünchte Bauwerk mit den beiden markanten Erkern - in der Fachsprache: Zwerchhäuser - in keiner Denkmalliste, doch machte es durchaus den Eindruck eines erhaltenswerten Baudenkmals, stammend aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Auch im Inneren wartete das Haus mit einer zweckmäßigen Raumaufteilung und großzügigen Treppenanlagen auf. Hinzu kamen dekorative Rundbogenfenster im Erdgeschoss.
Lange Schlangen am Renten-Zahltag
Was den Abriss so befremdlich und bedauerlich macht, ist die Geschichte und Rolle des Hauses im Leben und der Entwicklung des Ortes. Der Erbauer Johann Rösch - sein Name zierte bis zuletzt die Südfassade - gehörte in den 20er- und 30er-Jahren des vorigen Jahrhunderts zu den Pionieren des hiesigen Ocker-Bergbaus.
Im Abstand von wenigen Jahren wurde der zweigeteilte, aber äußerlich architektonisch identische Bau errichtet. Der ältere, östliche Bau beherbergte im Obergeschoß die großzügigen Wohnräume des Grubenunternehmers und im Parterre die traditionsreiche Gaststätte Zur Eisenbahn. In den Jahren 1919/20 wurde das Gebäude nach Westen verlängert, um die im Ort neu installierte Postagentur im Erdgeschoss aufzunehmen. Diese bestand noch bis viele Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, um die zahlreichen Postkunden auch aus dem Umland zu bedienen. Auch das Schloss Neidstein gehörte damals amtlich zum Postbereich Neukirchen. Und ältere Bewohner werden sich noch gut an die langen Warteschlangen am Rentenzahltag erinnern.
Quicklebendiges Bahnhofsviertel
Nachdem in früheren Jahren der Postverkehr (Briefe und Pakete) noch über die Bahn abgewickelt wurde, war der Standort unmittelbar gegenüber dem Bahnhof ausgesprochen ideal. Für den Posthalter stand im ersten Stock eine Dienstwohnung zur Verfügung. Als Bauunternehmer für den stilgleich errichteten Anbau zeichnete der Neukirchener Maurermeister Michael Schmidt von der Bahnhofstraße verantwortlich. In früherer Zeit, bis in die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, war das Bahnhofsviertel mit drei Gastwirtschaften auf engsten Raum ein beliebter Fest- und Startplatz für viele Umzüge, Kundgebungen und Veranstaltungen, also ein nicht unbedeutendes Zentrum für Brauchtum, Geselligkeit und Kultur. In Zeiten mangelnder Mobilität kam die Nähe zum Bahnhof sehr gelegen.
Westlich des Postgebäudes befand sich auf dem zugehörigen Grundbesitz mit altem Baumbestand auch das Schützenheim der Schützengesellschaft 1912. Dieses wurde 1939 von der Wehrmacht als Übernachtungsheim für durchreisende Soldaten beschlagnahmt. Nach Kriegsende fanden hier Heimatvertriebene eine Notunterkunft. Später eröffnete in den freigewordenen Räumen ein Reformhaus (Fulke) seine Pforten.
Ockerstube schließt den Kreis
Eine letzte, aber quasi authentische Nutzung des Westbaus erfuhr das Anwesen durch die "Ockerstube". Sie zeigte eine umfangreiche Sammlung von Gerätschaften, Fotos und Dokumenten aus der Epoche des für den Raum Neukirchen-Königstein so traditionsreichen und typischen Farberde-Bergbaus. Die Ockerstube besaß Alleinstellungscharakter weit über die lokalen Grenzen hinweg.
Mit dem Abbruch dieses architektonisch und historisch einmaligen Gebäudes ist die Geschichte des Ortes ärmer geworden. Der Bahnhofsvorplatz verliert sein vertrautes Gesicht. Heimatgeschichte hat keine Lobby.
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