Schon Mitte des 14. Jahrhunderts existieren im Bayerischen und Böhmerwald Glashütten. Nach dem Bau der Eisenbahn im Raum Weiden-Neustadt wandern Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts mehrere Unternehmen nach Neustadt ab.
Aus dem Bayerischen Wald kommen die Bauerhütte, später Osram, die Firma F. X. Nachtmann (Frankhütte) sowie Tritschler, Winterhalder & Co. (Hermannhütte). Im Nachbarort Altenstadt dagegen gründen zwei hiesige Unternehmer die Glashütten Hofbauer und Beyer & Co., außerdem in Windischeschenbach die Annahütte. Viele Glasmacher, ein geselliges, musikalisches Völkchen, siedeln aus Niederbayern mit um, in Neustadt geht es wirtschaftlich aufwärts.
Export in über 50 Länder
Die Glasfabriken entwickeln sich glänzend und sind schnell die größten Arbeitgeber. Trinkgläser und Karaffen, Schüsseln und Schalen, Kuchenplatten und Vasen, Aschenbecher und Kerzenleuchter aus funkelndem Bleikristallglas werden als Exportschlager in über 50 Länder exportiert. Bereits 1930 schwärmt das Wiener Handelsblatt in höchsten Tönen: „Es handelt sich hier um Spitzenleistungen der modernen Glasmacherkunst, die an wasserklarer Reinheit, an feurigem und dauerhaftem Glanz alle älteren Fabrikate weit übertreffen.“
Kaum ein namhafter Politiker, der die nördliche Oberpfalz besucht, kommt an den Aushängeschildern, den Glashütten, vorbei. Prominentester Gast ist Bundespräsident Richard von Weizsäcker, dem am 26. April 1988 bei F. X. Nachtmann ein großer Bahnhof bereitet wird. Beim Besuch des jordanischen Königs Hussein und seiner Gemahlin, Königin Nur-Al-Hussein, 1978 in München brilliert Ministerpräsident Franz Josef Strauß mit einer prächtigen Bleikristallschale der Firma Nachtmann.
Rund 4000 Beschäftigte
Chefdesigner Franz Rößler (82), erinnert sich noch gut an den nicht alltäglichen Auftrag. Die aus 20 Kilogramm flüssigem Glas geblasene Schale wurde von seinen besten Kräften in 20 Arbeitsstunden bearbeitet. Eine weitere wertvolle Schale ist ein Hingucker in der reichen Trophäensammlung des deutschen Fußballrekordmeisters FC Bayern München.
Im Jahr 1970 finden in den fünf Glasfabriken rund 4000 Männer und Frauen Brot und Arbeit. Vor allem Nachtmann expandiert stark. 1983 entsteht ein hochmodernes Werk in Weiden. Nach Riedelhütte übernimmt der Marktführer 1990 auch noch die Werke Spiegelau und Frauenau mit 350 Beschäftigten und erhöht den Mitarbeiterstamm auf 2150. 1995 kommt das einstige Rosenthalwerk in Amberg dazu. Längst gilt die Region als Europas Bleikristallzentrum, wie es noch heute auf der A 93 an der Ausfahrt Neustadt zu lesen ist.
Billiges Glas aus dem Osten
Mit der Öffnung der Ostgrenzen ziehen dunkle Wolken am Himmel auf. Billiges Glas aus der damaligen Tschechoslowakei, aus Polen, Weißrussland und der Ukraine drängt auf den Markt. Für den heute 76-jährigen Karl Schmidberger, viele Jahre Leiter der Fertigungssteuerung und Arbeitsvorbereitung bei Nachtmann, war schon 1980 abzusehen, „dass einige Glashütten auf der Strecke bleiben werden“. Hinzu kommen Managementfehler und familiäre Unstimmigkeiten.
Der Verdrängungswettbewerb ist in vollem Gang. Es geht schließlich Schlag auf Schlag, eine Glasfabrik nach der anderen zerbricht. 1987 meldet Tritschler Konkurs an, 1992 folgt Beyer & Co., und Ende 1995 gehen bei Hofbauer die Lichter aus. 2005 ist schließlich bei Phönix-Kristall, Nachfolgebetrieb der Annahütte, Schluss. Zurück bleiben Scherbenhaufen und immense Altlasten.
Im September 2004 übernimmt Georg Riedel, Eigentümer der Tiroler Glashütte GmbH, die Firma F. X. Nachtmann mit rund 1600 Mitarbeitern. Schon zwei Jahre zuvor war bei Nachtmann am Firmensitz Neustadt nach 100 Jahren die Glasproduktion eingestellt worden. Gefertigt wird heute nur noch Kristallglas und nur noch in Weiden und Amberg.
Vergiftete Umwelt
Funkelndes Bleikristallglas passt so gar nicht zu dem giftigen Dreck, mit dem die Glasfabriken die Umwelt vergiftet haben. Tonnenweise schlummern Blei, Fluor, Arsen und Co nicht nur auf dem Gelände der Firmen, sondern an vielen Stellen in Neustadt, Altenstadt und Windischeschenbach. Ganz aktuell muss in der Kreisstadt für den Bau des betreuten Wohnens neben Altenheim St. Martin und Kindergarten St. Martin das Baugrundstück von giftigen Rückständen der Bleikristallindustrie befreit werden. Mit Betretungsverboten für die stillgelegten Fabriken werden die Menschen geschützt. Ruinen erinnern an glanzvolle Zeiten.
Seit 20 Jahren betreibt das Landratsamt Neustadt inzwischen die Entsorgung der Altlasten. Und ein Ende der komplexen Verfahren ist nicht abzusehen. Die Untersuchungen der Behörde ergaben drastische Überschreitungen der Grenzwerte: bei Arsen im Grundwasser bis zu 3000 Prozent, bei Fluorid ebenfalls im Grundwasser bis zu 2000 Prozent und bei Blei im Boden bis zu 9160 Prozent. Einzig bei F. X. Nachtmann laufen erste Sanierungsschritte.
Die Kosten für die Revitalisierung der Glaswerke Hofbauer und Beyer in Altenstadt sowie Tritschler in Neustadt und Annahütte in Windischeschenbach beziffert Landrat Andreas Meier mit rund 84 Millionen Euro. Bezahlen müssen das wohl die Steuerzahler.
In die Schlagzeilen gerieten die Glashütten Anfang der 1980er Jahre. Ein zehn Hektar großer Mischwald in Altenstadt mutierte über Nacht zum Horrorforst, in Hunderten Gärten warfen Sträucher ihre Blätter ab, Erdbeeren verfärbten sich braun. Niemand traute sich mehr Obst und Gemüse zu essen. Am 14. April 1984 gingen über 3000 Menschen gegen die Umweltverschmutzung auf die Straße. Gegen die Betreiber der Fabriken erhob der Staatsanwalt Anklage. Die Verfahren wurden schließlich gegen Zahlung eines Bußgeldes eingestellt. Alle Glasfabriken mussten zur Luftreinhaltung Filteranlagen einbauen. (ms)
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