Neustadt an der Waldnaab
10.01.2020 - 16:04 Uhr

"Ich verstehe Teile meiner Partei nicht": Annette Karl im Interview

SPD-Landtagsabgeordnete Annette Karl feiert am Montag 60. Geburtstag. Im Gespräch mit Oberpfalz-Medien verrät sie, warum sie trotz vieler Ämter und Fehden noch Freude an der Politik hat.

Ihr großes Vorbild Willy Brandt begleitet Annette Karl als Pop-Art-Druck in ihrem Büro in Neustadt. Wer ihr dort am Montag zwischen 11 und 17 Uhr zum 60. Geburtstag gratulieren will, findet offene Türen vor. Bild: Gabi Schönberger
Ihr großes Vorbild Willy Brandt begleitet Annette Karl als Pop-Art-Druck in ihrem Büro in Neustadt. Wer ihr dort am Montag zwischen 11 und 17 Uhr zum 60. Geburtstag gratulieren will, findet offene Türen vor.

ONETZ: Frau Karl, was wünschen Sie sich zum 60. Geburtstag?

Annette Karl: Gesundheit und eine friedliche Umwelt.

ONETZ: Etliche Landespolitiker wie Sie, etwa Erwin Huber oder Horst Seehofer, sprechen von Politik als Droge, die einen nicht loslässt. Wie ist das bei Ihnen?

Karl: Ich glaube, wenn man älter wird, kann man besser einschätzen, was man leisten kann. Politik lässt einen selten los, aber man kann gegensteuern. Ich war heuer das erste Mal im Urlaub, wo ich drei Wochen das Handy ausgehabt habe. Man muss sich bewusst entwöhnen.

ONETZ: Wo waren Sie?

Karl: Wandern im Zion- und im Arches- Nationalpark in den USA. Da fällt man abends todmüde ins Bett. Früher hatte ich nachts das Handy an, da hat mich die Pressestelle noch um 3 Uhr früh angerufen. Da kann ich jetzt schon besser loslassen.

ONETZ: Sie haben und hatten viele Funktionen auf einmal: Landtag, stellvertretende SPD-Landesvorsitzende, Bundesvorstand der SPD-Frauen, Stadträtin, Kreisrätin und durch den Verlust der SPD-Landtagsmandate auch noch die Zuständigkeit als Abgeordnete für die Kreise Schwandorf und Cham. Was können Sie da noch leisten?

Karl: Nach der letzten Landtagswahl habe ich festgestellt, dass man vieles in diesem Hamsterrad nicht mehr so machen kann, dass man den eigenen Ansprüchen und denen der Wähler genügt. Daher habe ich Kreisvorsitz und Kreistagsmandat aufgegeben. Ich will auch anderen die Gelegenheit geben, sich zu profilieren. Deshalb freut es mich, dass wir in Neustadt auf der Stadtratsliste viele junge Leute haben.

ONETZ: Unabhängig von Wahlergebnissen: Macht es noch so viel Spaß wie früher oder verschleißt einen die Politik?

Karl: Was Spaß macht und die größte Befriedigung bringt: Wenn man Menschen helfen kann, etwa wenn jemand wieder in die Heimat versetzt werden will oder aktuell eine Frau aus einem Ort hier im Landkreis. Die war beim Breitbandausbau übersehen worden, da haben wir eine sehr pragmatische Lösung mit Nachbarkommune und Breitbandzentrum gefunden. Ich gebe aber zu, dass der Landtag immer weniger vergügungssteuerpflichtig wird.

ONETZ: Warum?

Karl: Das liegt stark am Einzug der AfD. Umgangsformen und Tonfall haben sich geändert. Wir hatten alle eine Übereinkunft, was man sagen kann und was nicht, so dass wir auch nach der heftigsten Auseinandersetzung noch ein Bier miteinander trinken konnten. Diesen Konsens hat die AfD aufgekündigt, indem sie versucht die Grenzen mit Provokationen auszudehnen und uns als Systemparteien zu schmähen.

ONETZ: Schweißt das nicht auch zusammen?

Karl: Was den Umgang im Positiven verändert hat, ist der Verlust der absoluten Mehrheit der CSU. Trotzdem werden Anträge der Opposition von beiden Regierungsparteien nach wie vor konsequent abgelehnt. Da hat sich wenig verändert. Aber in Ausschüssen versuchen wir, gemeinsame Wege zu finden.

ONETZ: Sie haben sich an zwei Ministerpräsidenten abgearbeitet. Was hat sich verändert?

Karl: Bei den Ministerpräsidenten ist der größte Wandel Markus Söder selbst mit seinem Versuch, vom Machtmenschen zum Landesvater zu werden. Was mir gut an ihm gefällt, ist die klare Haltung zu AfD und Rechtsextremen. Ob man ihm seine grüne Wandlung abnehmen kann, muss sich jedoch noch zeigen.

ONETZ: Ihr Herz schlägt für die Landespolitik, im Landkreis sind Sie aber immer noch das Gesicht der SPD. Wie reizvoll wäre ein Posten als Landrätin oder Bürgermeisterin gewesen?

Karl: Ich habe 2008 ja mal als Landrätin kandidiert. Was mich daran gereizt hätte, wäre, mal nicht in der Opposition zu sein, sondern zu gestalten. Da verstehe ich oft Teile meiner Partei nicht. Die haben eine geradezu panische Abneigung gegen Regierungstätigkeit, vor allem in der Landespolitik. Aber wenn ich in den Bund schaue, sehe ich, dass SPD-Positionen wie Grundrente und Mindestlohn nur in der Regierung durchsetzbar sind.

ONETZ: Woher rührt diese Abneigung gegen Macht?

Karl: Macht kann einen Menschen verbiegen, aber nur mit dem Willen zur Macht komme ich weiter. Daher müssen wir uns als SPD im Landtag auch nicht nur an Regierung abarbeiten, sondern sagen, was wir selber wollen. Ich habe in der Antwort auf die Regierungserklärung von Wirtschaftsminister Aiwanger gefordert, Bürger an Erträgen von Windkraftanlagen zu beteiligen, Das hat jetzt unsere Bundestagsfraktion aufgegriffen, so was freut mich sehr. Fatal ist auch, dass Kompromisse schlecht verkauft werden.

ONETZ: Sie haben sich einen guten Ruf als Sprecherin für den ländlichen Raum erarbeitet. Kommt man da in der eigenen, städtisch geprägten Partei mit Themen durch?

Karl: Ich denke, gerade für den ländlichen Raum habe ich zusammen mit meinem Parteifreund Christoph Rabenstein viel erreicht. Es war eine Initiative von SPD und Freien Wählern, gleichwertige Lebensbedingungen in ganz Bayern in den Verfassungsrang zu erheben. Danach hat eine von der SPD-Landtagsfraktion beantragte Enquete-Kommission mit Wissenschaftlern auf über 50 Seiten aufgeschrieben, was man aus Expertensicht machen kann.

ONETZ: Und wie kommt man als gebürtige Berlinerin und Sozialdemokratin bei der klassisch CSU-nahen ländlichen Klientel wie den Bauern an?

Karl: Mit meinen Themen habe ich auch bei Schützen, Feuerwehren und Wirtschaftsverbänden einen guten Ruf als Fachpolitikerin. Das wird uns als SPD nicht auf 40 Prozent beamen, es wäre aber fatal, es nicht zu bespielen. Das ist ein Problem der SPD, sich gern dort aufzuhalten, wo es kuschelig ist und die Leute die eigene Meinung teilen.

ONETZ: Klappt es, in der Opposition über Bande zu spielen und etwas durchzusetzen?

Karl: Da denke ich sofort an den Städtetag oder den Gemeindetag. Es passiert viel, ohne dass man dazu gemeinsame Pressekonferenzen gibt. Klassisches Beispiel für parteiübergreifende Zusammenarbeit ist der Kreisverkehr in Neustadt. Da hatten wir Probleme, Förderungen zu akquirieren und die Staatsregierung zu überzeugen. Da nutzt man halt zusammen mit dem Bürgermeister die guten Kontakte zu Staatssekretär Gerhard Eck, der sehr lösungsorientiert ist.

ONETZ: In Ihrem Büro hängen Porträts von August Bebel, Kurt Schumacher und Willy Brandt. Wer ist Ihr größtes politisches Vorbild?

Karl: Absolut Brandt. Das hat mit meiner Kindheit in Westberlin zu tun. Als ich mit meinen Eltern nach Ostwestfalen gezogen bin, blieb die Großmutter in Berlin. Es sind schreckliche Erinnerungen, wie wir stundenlang am Übergang in Helmstedt standen, um sie zu besuchen. Dann hat Brandt das Transitabkommen durchgesetzt. Und dann war da natürlich der Slogan „Mehr Demokratie wagen“.

ONETZ: Trotzdem sind Sie erst spät, 1995, der SPD beigetreten.

Karl: Als ich mit meinem Mann und den Kindern nach Altenstadt gezogen bin, hat mich mein Nachbar Hans Simon gefragt, ob ich mir nicht vorstellen könnte, mitzumachen. Er hat mich hartnäckig bearbeitet und überzeugt. In Berlin hatte ich mal mit der Grün-Alternativen Liste geliebäugelt. Die Grünen hab ich hier in der Oberpfalz aber gar nicht wahrgenommen Ich finde die auch bis heute nicht überzeugend, die bleiben eine Partei des gut situierten Bürgertums der Städte.

ONETZ: Sie sind Mitglied im Landeskomitee der bayerischen Katholiken. Welche Rolle spielt Religion in Ihrem Leben?

Karl: Eine wichtige, aber ich sehe das größtenteils als Privatsache. Sie ist ein Wertegerüst für meine politische Arbeit. Ich war als Studentin vor allem von der Befreiungstheologie fasziniert.

ONETZ: Sie waren mal stellvertretende SPD-Landesvorsitzende. Hat es Sie nie gereizt, nach dem Vorsitz zu greifen?

Karl: Als die Frage konkret anstand, hab ich Nein gesagt. Ich war Jahre im Bundesvorstand der AsF, aber man muss erkennen, dass viele Gremien einen auch zermürben. Meine Stärke liegt mehr im Gespräch mit den Bürgern. Ich war nie Juso, vielleicht fehlt mir deshalb für manche Diskussionen auch die Geduld.

ONETZ: Sie betreuen jetzt Schwandorf und Cham mit. Können Sie Ihren Wahlkreis Weiden/Neustadt noch so bearbeiten, wie Sie es sich wünschen?

Karl: Bei Bürgeranfragen manche ich keine Abstriche, allerdings bei offiziellen Anfragen und Veranstaltungen von Vereinen in einzelnen Orten, das geht nicht anders.

ONETZ: Beneidet man da die CSU-Kollegen, die sehr präsent sind?

Karl: Ich war aufgrund von Petra Dettenhöfers Erkrankung in der letzten Periode lange Zeit die einzige Landtagsrepräsentantin bei vielen Terminen. Jetzt bin ich Demokratin genug, um zu sagen, dann sind halt der Stephan (Oetzinger) oder der Christoph (Skutella) da und ich nicht, weil ich in Cham bin.

ONETZ: Der Stephan, der Christoph, die Anna Toman: Sie duzen sich. Gibt es Allianzen der Oberpfälzer Abgeordneten?

Karl: Ja, wir duzen uns, nur die beiden von der AfD nehme ich aus. Allianzen ist zu viel gesagt, aber ich habe ein gutes Verhältnis zu den dreien und zu Tobias Reiß, wir waren lange zusammen im Wirtschaftsausschuss. Wenn es der Region hilft, arbeiten wir zusammen, hängen das aber nicht an die große Glocke.

ONETZ: Können Sie ein Beispiel nennen?

Karl: In Waldthurn das Gesundheitszentrum. Da haben wir uns beide bei der Regierung der Oberpfalz eingesetzt, das hat Regierungspräsidentin Brigitta Brunner sehr imponiert.

ONETZ: Wer sind Ihre Lieblingskollegen im Landtag?

Karl: In der eigenen Fraktion machen die Abgeordneten, die auch über Nacht bleiben, öfter mal was zusammen. Inhaltlich und menschlich komme ich mit Markus Rinderspacher sehr gut aus, der kommt auch am Montag hier in Neustadt vorbei. Bei den anderen Parteien schätzte ich Sandro Kirchner, den Vorsitzenden im Wirtschaftsausschuss. Von Erwin Huber habe ich viel gelernt, wie Politik funktioniert. Wir schreiben uns auch noch ab und zu.

ONETZ: Gibt es Lieblingsgegner?

Karl: Aktuell ist das Hubert Aiwanger. Er macht extrem kurzfristige, populistische Politik. Ich kann mit einem Minister nichts anfangen, der sich bei Continental in Roding hinstellt, und sagt, die haben Staatsmittel bekommen, die können gar nicht zumachen, und einen Monat später heißt es, das können sie halt doch.

ONETZ: Zurück in die Region: Sie haben viele junge SPD-Bürgermeisterkandidaten. Wem trauen Sie am meisten zu? Wo sehen Sie in Neustadt oder Weiden die größten Talente auch im Hinblick auf ein Erbe beim Landtagsmandat?

Karl: Markus Ludwig, Nicole Bäumler und Sebastian Dippold sind große Talente, da kommen aber noch ein paar andere dazu, etwa Michael Kick, der stellvertretende Juso-Landesvorsitzende aus Parkstein. Ich würde mir nur wünschen, dass er sich auf kommunaler Ebene mehr einbringt. Leider haben wir noch zu wenige junge Frauen. In Neustadt haben wir nur vier auf der Liste, da hätte ich mir mehr gewünscht.

ONETZ: Im Gegensatz zum Bund scheint sich die SPD im Kreistag in der Groko mit der CSU wohlzufühlen. Ist das auch Ihr Wunsch für die neue Wahlperiode?

Karl: Ich bin nicht mehr Kreisvorsitzende und Kreisrätin, also nicht mehr die Richtige, hierzu Ratschläge zu erteilen. Unser Landratskandidat Peter Lehr wird demnächst das Wahlprogramm vorstellen. Dann geht es darum, zu schauen, wo man das meiste umsetzen kann. Persönlich könnte ich im Kreis weiter mit einer Groko leben.

ONETZ: In der Rückschau: Was betrachten Sie als Ihren größten Erfolg?

Karl: Erfolge sind als Oppositionspolitikerin oft kleine Dinge, das muss man erst lernen. Ich erinnere mich noch an das erste Erlebnis, als es gelungen ist eine Bushaltestelle in Altenstadt woanders einzurichten als dort, wo Bürgermeister Georg Heigl sie gerne gehabt hätte. Stolz bin ich heute auf die Zusammenarbeit im Stadtrat von Neustadt. Dort werden Schulden abgebaut und insgesamt gute Politik für die Bürger gemacht, von Kinderbetreuung bis zur Wirtschaft. Auf Landesebene halte ich mir zugute, dass die Nordoberpfalz in München nicht mehr als Jammertal, sondern als dynamische Region mit vielen „hidden champions“ wahrgenommen wird.

ONETZ: Sie haben vier Kinder. Zieht es die in die Politik?

Karl: Nein, mein Sohn Sebastian war mal Juso, ist aber dann zum Studium nach München. Alle Kinder denken sehr politisch, mein Beispiel war aber nicht dazu angetan, sich in einer Partei zu engagieren. Das finde ich schade, aber Politik ist leider nicht sehr familienfreundlich.

ONETZ: Sie kümmern sich in Ihrer Freizeit auch um Ihre kranken Eltern in Norddeutschland. Was tun Sie zur Entspannung?

Karl: Ich gehe in einer kleineren Gruppe zweimal die Woche ins Fitnessstudio, lese und stricke gerne.

ONETZ: Landtag und Stricken – das klingt jetzt doch nach einer verkappten Grünen.

Karl: (lacht) Nein. So weit geht die Leidenschaft dann doch nicht.

 
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