Herbergssuche mit wunder Seele: Für Geflüchtete aus der Ukraine kollidiert Weihnachten mit einem Trauma

Pfreimd
23.12.2022 - 10:07 Uhr
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Für bunte Kugeln und leuchtende Sterne ist kein Platz in der Welt von Tetiana Buchenko. in Pfreimd kreisen ihre Gedanken um die rund 1000 Kilometer entfernte Heimat in der Ukraine. Für Weihnachten hat sie nur einen einzigen Wunsch.

Vergeblich haben Maria und Josef vor der Geburt Jesu Christi nach einer Unterkunft in Bethlehem gesucht, bis sie schließlich notfallmäßig in einem Stall unterkamen. 2022 Jahre später sind es Geflüchtete aus der Ukraine, die von heute auf morgen eine neue Bleibe brauchen. Und auch ihre Herbergssuche ist nicht einfach. Sie ist geprägt von Angst, von Zerrissenheit und der Sorge um Menschen, die noch lange nicht in Sicherheit sind. Zwei Freundinnen erzählen in Nabburg von einer Ankunft auf Raten.

Jana Halaiko ist erst vor wenigen Stunden aus der ukrainischen Stadt Butscha eingetroffen, als sie zusammen mit ihrer Freundin Tetiana am weihnachtlich geschmückten Tisch im Wohnzimmer von Albert Bruckner in Nabburg Platz nimmt. Sie ist müde von der 30-stündigen Busfahrt, blass von den vielen Tagen in einem Keller während der Zeit der russischen Besatzung. Und doch ist es beiden Frauen wichtig, zu schildern, was da los ist in ihrem Land, wie es sich lebt, wenn eine Bleibe nicht mehr selbstverständlich ist. Das geht nicht ohne Dolmetscher, denn die beiden gleichaltrigen Frauen sprechen weder Deutsch noch Englisch. Alina Kbiltsetskhlashvili, die schon länger in Deutschland lebt, übernimmt diese Rolle.

Es ist eine Flut von Sätzen, die da über die Dolmetscherin hereinbricht. Die Zuhörer blicken in vor Angst geweitete Augen, während immer mehr Details einer Flucht auf den Tisch kommen, die keineswegs geradlinig und flott verlief, genauso wenig wie später die Suche nach einer Unterkunft. Tetiana Buchenko ist mit ihrer dreijährigen Tochter Katja sofort nach dem russischen Überfall am 24. Februar geflohen. Nicht einmal zehn Kilometer beträgt ihre erste Etappe bis zum Keller von Verwandten in Irpin, wo viele Menschen eng zusammengepfercht die Nacht abwarten. "Ihr Glück, denn am anderen Tag war der Rückweg abgeschnitten, Butscha durch die Sprengung einer Brücke isoliert", fasst die Dolmetscherin zusammen.

Immer wieder Schüsse

Als einziger Weg weg von der Front erweist sich für Tetiana und die Familie, mit der sie unterwegs ist, die Straße Richtung Odessa. Doch es geht nur langsam voran. "Für 50 Kilometer haben wir einen ganzen Tag gebraucht", schildert die 32-Jährige, "viele Autos wurden beschossen". Drei Tage sitzt sie irgendwo fest, bis es über Ternopil Richtung Westen geht. Immer wieder sucht man Schutz vor den kleinen, schnellen Jagdbombern.

Erst nach Tagen ist die polnische Grenze erreicht, und irgendwann um Mitternacht ist die kleine Familie aus Butscha schließlich zum ersten Mal für mehr als ein paar Tage angekommen. Sie wird bei einer amerikanischen Familie in Eschenbach aufgenommen. Allerdings ist es eine Herberge auf Zeit, denn die Gastgeber sind Angehörige der US-Armee und nur bis 1. Juli hier stationiert. Die Herbergssuche geht weiter.

Schreckliche Nachrichten

In dieser Zeit haben Tetiana Buchenko schon die schrecklichen Nachrichten aus der Heimat erreicht. "Das schlimmste ist für mich, dass Oleksii gestorben ist", erzählt die 32-Jährige mit Tränen in den Augen. Auf dem Smartphone sucht sie ein Bild von dem Kindheitsfreund. Als Taufpaten ihrer Tochter lächelt er an der Seite der zweiten Patin, Jana Halaiko, unter bunten Luftballons in die Kamera. Dann zeigt sie das Foto einer grauen Katze. Um sie zu füttern, ist der 32-Jährige Informatiker aus dem Keller in die Neubauwohnung hoch gekommen. Er wird vom Geschoß eines Panzers getroffen und stirbt.

"Er ist dann zwei Tage am Eingang des mehrstöckigen Hauses gelegen, erst dann haben die russischen Soldaten es seiner Mutter erlaubt, ihn zu begraben", erzählt Tetiana Buchenko. Die schwangere Frau des Getöteten habe durch den Schock ihr Kind verloren. "Olekseiis Vater ist Kinderarzt, er hat so viele Leben gerettet, ist selbst in Russland geboren", so die 32-Jährige. Jetzt habe er den Tod des Sohnes und gleichzeitig des ungeborenen Enkelkinds verkraften müssen. "Wir hatten doch nie ein Problem mit den Russen in unserem Land, da ist nie jemand diskriminiert worden", stellt sie kopfschüttelnd klar.

Ihr Handy ist wie ein Fotoalbum, der unglaublichen Ereignisse. Ein Video, aufgenommen von einer Nachbarin, zeigt eine Straße in Butscha, gesäumt von Leichen, eine tote Frau neben ihrer Einkaufstasche, ein lebloser Mann unter seinem Fahrrad. Vor dem Neubau, in dem die 32-Jährige und ihre Freundin Jana wohnten, Trümmer und ausgebrannte Autos. Ein Schlachtfeld auch die Apotheke, wo Tetiana nach dem Pharmazie-Studium in Kiew bis zum Krieg noch gearbeitet hat. Immerhin ist ihr die Besatzungszeit in Butscha erspart geblieben. "Ich habe in der ganzen Zeit nie das Haus verlassen, erzählt die jetzt erst angekommene Freundin. "Jeder notwendige Einkauf bedeutete Lebensgefahr, man konnte sich im Freien nur mit erhobenen Händen bewegen." Jetzt ist der Ort zwar in ukrainischer Hand, aber Jana ist trotzdem froh, dass sie es geschafft hat, nach Deutschland zu kommen. "Es gibt kein Wasser, keinen Strom. Es ist wie das Leben auf einer Bombe, die irgendwann explodiert", sagt sie.

Noch ein Neuanfang

Tetiana Buchenko und ihre Tochter haben über zufällige Kontakte im Sommer eine Wohnung in Pfreimd gefunden, seit einem Monat ist sie hier mit der Mutter wieder vereint und seit kurzem auch mit dem Papa, der ausreisen durfte, weil er gerade seinen 60. Geburtstag hatte. Die Herbergssuche hat vorläufig ein Ende gefunden, und auch für die frisch eingetroffene Freundin und ihre Kinder scheint eine Lösung in Sicht. Aber die Ehemänner, Väter und Brüder sind mittendrin im Kriegsgebiet.

Wird nun zumindest an Weihnachten ein wenig Glück einkehren für die kleine Familie, die in Pfreimd untergekommen ist? Tetiana Buchenko schüttelt den Kopf. Sie habe "kein Gefühl fürs Feiern", übersetzt die Dolmetscherin. Dazu sei sie zu traurig, alles sei "nicht auszuhalten". Hat sie denn einen Wunsch? "Wir haben alle nur den einen Wunsch, dass dieser Krieg zu Ende geht", erklärt die 32-Jährige. Und die kleine Katja, will sie nicht wenigstens eine Puppe? Ihre Mutter scrollt noch einmal durch die Fotos im Handy, findet eines, das die Kleine begeistert in einer Miniatur-Küche für Kinder zeigt. "Das ist jetzt alles geplündert", sagt sie, viel zu fokussiert auf Vergangenes, um nach vorne zu schauen.

Immerhin konnte die 32-Jährige über eine Freundin inzwischen ihren Kleinwagen hierher nach Deutschland überführen. Die Einschusslöcher sind mit schwarzem Gewebeband notdürftig überklebt. Für andere Wunden gibt es kein Pflaster. Heilung verspricht nur ein Frieden, der auf Russisch "Mir" heißt und auf Ukrainisch nur eine Nuance anders ausgesprochen wird.

Vielleicht ein Tannenbaum

Für die kleinen Dinge des Lebens gibt es inzwischen ein Netzwerk, zu dem auch die Nabburger Tafel gehört. Vielleicht kommt damit in der Wohnung von Tetiana doch noch ein klein wenig Weihnachtsstimmung auf. "Wir haben nämlich tatsächlich für die Tafel auch Weihnachtsbäume geschenkt bekommen", macht Vorsitzender Albert Bruckner so eine dezente Andeutung...

Hintergrund:

Der Ukraine-Krieg und seine Folgen

  • Zahlen: Zwischen Ende Februar und dem 13. Dezember 2022 wurden dem Bundesinnenministerium zufolge 1.036.135 Geflüchtete aus der Ukraine im Ausländerzentralregister (AZR) registriert; in Bayern (Stand September 2022) 149.000 Personen
  • Geflüchtete: 70 Prozent Frauen, 30 Prozent Männer, rund 34 Prozent Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren; Durchschnittsalter 28 Jahre
  • Unterkunft: Drei Viertel in privaten Wohnungen 17 Prozent in Hotels oder Pensionen, 9 Prozent in Gemeinschaftsunterkünften
  • Zukunftspläne: 37 Prozent der Geflüchtete aus der Ukraine möchten langfristig in Deutschland bleiben, 34 Prozent nur bis Kriegsende. 2 Prozent wollen innerhalb eines Jahres zurückzukehren (Quelle: Mediendienst Integration)
 
 

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