"Wir sind heute zu Ihnen gekommen, um Ihnnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise..." Weiter kommt der damalige Außenminister nicht auf dem Balkon der Prager Botschaft. Im Garten des Palais Lobkovitz bricht Jubel aus. "Freiheit"-Sprechchöre branden auf unter den tausenden DDR-Bürgern, die hier teils seit Wochen ausharren. "Das ist die bewegendste Stunde meiner politischen Arbeit", resümiert Genscher an jenem 30. September 1989.
In den Abendstunden jenes Samstags erfahren die Bundesgrenzschutz-Kommandeure Helmut Piper (Schwandorf) und Walter Wolf (Nabburg), und BRK-Geschsftsführer Alfred Braun, dass rund 600 Botschafts-Flüchtlinge in den Landkreis kommen werden. Bei BGS und Rotem Kreuz laufen die Vorbereitungen generalstabsmäßig an.
"Ernst und erschöpft die einen, ausgelassen und fröhlich die anderen", beschrieb diese Zeitung die Stimmung unter den DDR-Flüchtlingen, als der Sonderzug der Reichsbahn am 1. Oktober 1989 um 13.30 Uhr in Nabburg eintrifft. Bei der Ankunft in Freiheit haben einige nicht mehr dabei, als was sie am Leibe tragen, vielleicht noch eine Reisetasche, einen Rucksack. Landrat Hans Schuierer und der Nabburger Bürgermeister Rudolf Scharf schütteln mutmachend viele Hände. Teilweise hatten die Flüchtlinge wochenlang in der heillos überfüllten Prager Botschaft ausgeharrt. Die zwölf Stunden Zugfahrt sind die letzten Strapazen auf dem Weg in die Freiheit. Nochmal durch die DDR, über Dresden nach Hof. Ein paar Wagemutigen gelingt es, in den Zug in die Freiheit zu gelangen.
Frisch bezogene Betten
In der Nabburger BGS-Unterkunft warten Verpflegung (Schweinsbraten) und frisch bezogene Betten. Die freiwilligen Helfer des BRK richten auch eine Kleidekammer ein, Nabburger Geschäfte sorgen für Nachschub. Das BRK hat auch an eine Kinderstube gedacht, um den erschöpften Eltern etwas Ruhe zu gönnen. Die Nabburger Stadträtin Martha Berr bringt einige hundert Tafeln Schokolade. An den drei Telefonapparaten des BGS-Standorts bilden sich lange Schlangen, jeder möchte mit Verwandten, Bekannten telefonieren. Der BGS organisiert kurzerhand einen Pendelverkehr zum Postamt ein, das an dem Sonntag öffnet. Die ersten Karten und Briefe werden geschrieben.
Um 13.59 Uhr erreicht der Zug Schwandorf. Auch hier brandet Jubel und Beifall auf, Oberbürgermeister Hans Kraus greift zum Megaphon. Seine Begrüßung geht fast unter: "Wir freuen uns, dass sie alle bei uns sind." Nicht nur den Flüchtlingen laufen Freudentränen übers Gesicht, auch den Schwandorfern, die zum Empfang auf den Bahnsteig gekommen sind. Sieben Busse rollen auf den Weinberg, in die BGS-Unterkunft. 50 Mark "Friedlandhilfe" gibt's zum Start. Die Erfassung dauert. "Wir haben so lange gewartet, jetzt kommt es darauf auch nicht mehr an", ist aus den Reihen der ehemaligen DDR-Bürger zu hören. BGS-Küchenchef Willi Kelz hat mit seiner Truppe noch in der Nacht ebenfalls Schweinebraten vorbereitet. Nachspeise, wie auch in Nabburg: Bananen. Nach den Wochen in der Botschaft heißt es für die Flüchtlinge: Endlich in Ruhe duschen. Und dann nur noch schlafen.
Sorgen um die Lieben
Tags darauf bringt Bundestagsabgeordneter Dionys Jobst Spielsachen und Kleidung mit auf den Weinberg, mit Landrat Hans Schuierer und OB Hans Kraus sucht er das Gespräch mit den Flüchtlingen. Sie hören bedrückende Geschichten. Was geschieht mit den Lieben daheim, gibt's eine Chance auf Familienzusammenführung? Würde man sich überhaupt je wiedersehen?
Im Nachhinein ist klar: Jene 13 Worte, die Genscher am 30. September um 18.59 Uhr in Prag am Balkon sprach, haben das Ende der DDR eingeläutet. Dass am 9. November die Mauer fallen sollte, konnte damals noch niemand ahnen.
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