Schwandorf
29.09.2019 - 10:46 Uhr

Vor 30 Jahren: Ende einer Odysee

Hans-Dietrich Genscher hat seinen wohl berühmtesten Satz kaum zu Ende gesprochen, da laufen in Nabburg und Schwandorf Vorbereitungen an. Rund 600 DDR-Flüchtlinge kommen aus der Prager Botschaft in den Landkreis. Genau 30 Jahre ist das her.

1. Oktober 1989, kurz nach 14 Uhr: Oberbürgermeister Hans Kraus (links mit Megaphon) begrüßt die Flüchtlinge aus der Prager Botschaft am Schwandorfer Bahnhof: "Wir freuen uns, dass Sie alle bei uns sind." Bild: Gerhard Götz
1. Oktober 1989, kurz nach 14 Uhr: Oberbürgermeister Hans Kraus (links mit Megaphon) begrüßt die Flüchtlinge aus der Prager Botschaft am Schwandorfer Bahnhof: "Wir freuen uns, dass Sie alle bei uns sind."

"Wir sind heute zu Ihnen gekommen, um Ihnnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise..." Weiter kommt der damalige Außenminister nicht auf dem Balkon der Prager Botschaft. Im Garten des Palais Lobkovitz bricht Jubel aus. "Freiheit"-Sprechchöre branden auf unter den tausenden DDR-Bürgern, die hier teils seit Wochen ausharren. "Das ist die bewegendste Stunde meiner politischen Arbeit", resümiert Genscher an jenem 30. September 1989.

In den Abendstunden jenes Samstags erfahren die Bundesgrenzschutz-Kommandeure Helmut Piper (Schwandorf) und Walter Wolf (Nabburg), und BRK-Geschsftsführer Alfred Braun, dass rund 600 Botschafts-Flüchtlinge in den Landkreis kommen werden. Bei BGS und Rotem Kreuz laufen die Vorbereitungen generalstabsmäßig an.

"Ernst und erschöpft die einen, ausgelassen und fröhlich die anderen", beschrieb diese Zeitung die Stimmung unter den DDR-Flüchtlingen, als der Sonderzug der Reichsbahn am 1. Oktober 1989 um 13.30 Uhr in Nabburg eintrifft. Bei der Ankunft in Freiheit haben einige nicht mehr dabei, als was sie am Leibe tragen, vielleicht noch eine Reisetasche, einen Rucksack. Landrat Hans Schuierer und der Nabburger Bürgermeister Rudolf Scharf schütteln mutmachend viele Hände. Teilweise hatten die Flüchtlinge wochenlang in der heillos überfüllten Prager Botschaft ausgeharrt. Die zwölf Stunden Zugfahrt sind die letzten Strapazen auf dem Weg in die Freiheit. Nochmal durch die DDR, über Dresden nach Hof. Ein paar Wagemutigen gelingt es, in den Zug in die Freiheit zu gelangen.

Frisch bezogene Betten

In der Nabburger BGS-Unterkunft warten Verpflegung (Schweinsbraten) und frisch bezogene Betten. Die freiwilligen Helfer des BRK richten auch eine Kleidekammer ein, Nabburger Geschäfte sorgen für Nachschub. Das BRK hat auch an eine Kinderstube gedacht, um den erschöpften Eltern etwas Ruhe zu gönnen. Die Nabburger Stadträtin Martha Berr bringt einige hundert Tafeln Schokolade. An den drei Telefonapparaten des BGS-Standorts bilden sich lange Schlangen, jeder möchte mit Verwandten, Bekannten telefonieren. Der BGS organisiert kurzerhand einen Pendelverkehr zum Postamt ein, das an dem Sonntag öffnet. Die ersten Karten und Briefe werden geschrieben.

Um 13.59 Uhr erreicht der Zug Schwandorf. Auch hier brandet Jubel und Beifall auf, Oberbürgermeister Hans Kraus greift zum Megaphon. Seine Begrüßung geht fast unter: "Wir freuen uns, dass sie alle bei uns sind." Nicht nur den Flüchtlingen laufen Freudentränen übers Gesicht, auch den Schwandorfern, die zum Empfang auf den Bahnsteig gekommen sind. Sieben Busse rollen auf den Weinberg, in die BGS-Unterkunft. 50 Mark "Friedlandhilfe" gibt's zum Start. Die Erfassung dauert. "Wir haben so lange gewartet, jetzt kommt es darauf auch nicht mehr an", ist aus den Reihen der ehemaligen DDR-Bürger zu hören. BGS-Küchenchef Willi Kelz hat mit seiner Truppe noch in der Nacht ebenfalls Schweinebraten vorbereitet. Nachspeise, wie auch in Nabburg: Bananen. Nach den Wochen in der Botschaft heißt es für die Flüchtlinge: Endlich in Ruhe duschen. Und dann nur noch schlafen.

Sorgen um die Lieben

Tags darauf bringt Bundestagsabgeordneter Dionys Jobst Spielsachen und Kleidung mit auf den Weinberg, mit Landrat Hans Schuierer und OB Hans Kraus sucht er das Gespräch mit den Flüchtlingen. Sie hören bedrückende Geschichten. Was geschieht mit den Lieben daheim, gibt's eine Chance auf Familienzusammenführung? Würde man sich überhaupt je wiedersehen?

Im Nachhinein ist klar: Jene 13 Worte, die Genscher am 30. September um 18.59 Uhr in Prag am Balkon sprach, haben das Ende der DDR eingeläutet. Dass am 9. November die Mauer fallen sollte, konnte damals noch niemand ahnen.

Noch einmal Schlange stehen hieß es, bis die Aufnahme-Formalitäten erledigt waren. BGS und Rotes Kreuz arbeiteten Hand in Hand. Bild: Gerhard Götz
Noch einmal Schlange stehen hieß es, bis die Aufnahme-Formalitäten erledigt waren. BGS und Rotes Kreuz arbeiteten Hand in Hand.
Die Helfer hatten auf dem Bahnhof eine erste Verpflegungsstation aufgebaut. Bild: Gerhard Götz
Die Helfer hatten auf dem Bahnhof eine erste Verpflegungsstation aufgebaut.
Viele Flüchtliunge hatten nicht als als dass, was sie am Leib trugen. Die Kleiderkammern waren auf den Ansturm gerüstet, Bürger und Geschäftsleute sorgten für Nachschub. Bild: Gerhard Götz
Viele Flüchtliunge hatten nicht als als dass, was sie am Leib trugen. Die Kleiderkammern waren auf den Ansturm gerüstet, Bürger und Geschäftsleute sorgten für Nachschub.
Freundliches Winken am Schlagbaum: Das dürfte für viele DDR-Flüchtline ein neues Erlebnis gewesen sein. Bild: Gerhard Götz
Freundliches Winken am Schlagbaum: Das dürfte für viele DDR-Flüchtline ein neues Erlebnis gewesen sein.
Bundestagsabgeordneter Dionys Jobst, Landrat Hans Schuierer und Oberbürgermeister Hans Kraus (stehend, von rechts) Im Gespräch mit den Flüchtlingen in der BGS-Unterkunft. Links BGS-Kommandeut Helmut Piper. Bild: Gerhard Götz
Bundestagsabgeordneter Dionys Jobst, Landrat Hans Schuierer und Oberbürgermeister Hans Kraus (stehend, von rechts) Im Gespräch mit den Flüchtlingen in der BGS-Unterkunft. Links BGS-Kommandeut Helmut Piper.
Mit Bussen wurden die Menschen in die BGS-Unterkunft auf den Weinberg gebracht. Bild: Gerhard Götz
Mit Bussen wurden die Menschen in die BGS-Unterkunft auf den Weinberg gebracht.
 
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