Von Katharina Erlenwein
Kein großbürgerlicher Flaneur war er, eher ein Streuner: Wilhelm Genazino (1942 - 2018) hat mit seinem Blick auf die Alltags- und Arbeitswelt der Durchschnittsbürger (wie in "Abschaffel", "Die Liebesblödigkeit" und vielen weiteren Romanen) einen ganz eigenen Blick auf die Gesellschaft. Den trainierte er täglich, wie der im Januar erschienene Band "Der Traum des Beobachters" zeigt. Herausgeber Friedhelm Marx stellte das Buch mit den gesammelten Notizen des Schriftstellers jetzt im Literaturhaus Oberpfalz vor.
Das Bild auf dem Cover sagt schon viel: Genazino am Meer, mit Gummistiefeln, eifrig auf ein winziges Blöckchen notierend. "Er hat täglich viele Zettel beschrieben, sobald er aus dem Haus ging, und sie dann alle paar Tage abgetippt, genau nummeriert, datiert und geordnet", erzählt Marx. Der Bamberger Literaturwissenschaftler und Genazino-Kenner hat zig Ordner mit diesen Gedanken-Mitschriften im Deutschen Literaturarchiv Marbach gesichtet, wo der Nachlass des Schriftstellers liegt. Kein Tagebuch sei das, sondern Genazinos "Materialcontainer". So konnte der Autor akribisch abgeheftete Beobachtungen und Ideen aus den 80er Jahren teilweise erst 20 Jahre später verwenden für seine Bücher. „V“ steht dann neben der Aufzeichnung.
Manchmal sind es nur zwei Sätze, manchmal ganze Skizzen, die er da kritzelnd zu Papier brachte. Blicke nach außen und nach innen: "Wie immer lernte er viel bei der Beobachtung von Menschen, die ihm nicht gefielen", steht da. Oder theoretische Gedanken über das Schreiben: "Schreiben will Leben nicht festhalten, sondern seine Verflüchtigung erträglich machen." Oder Selbstzweifel: "Nach einem guten Einfall sofort die Angst, ihn nicht mehr ausführen zu können."
"Oft waren es einzelne Wörter, die er irgendwo entdeckte und die ihn zu diesen leicht absurden Bildern inspirierten", berichtet auch Moderator Thomas Geiger, der Genazino gut kannte: "Liegendanfahrt" zum Beispiel, an der Rückseite eines Krankenhauses – warum könnte man nicht liegend ins Büro gefahren werden? Oder schräger Berufe wie Schuhtester: In dem Buch "Ein Regenschirm für einen Tag"“ erzählt Genazino von einem Mann, der dieser Tätigkeit nachgeht. Marx hat die ordentlich ausgeschnittene Anzeige eines Schuhherstellers gefunden, die der Autor Jahrzehnte vorher aufgehoben hat: "Schuhtester gesucht". Aber Genazino, der erst spät studierte und lange Redakteur des Satiremagazins "Pardon" war, konnte sich auch "Ekelreferenten" und "freischaffende Apokalyptiker" vorstellen. "Er schaute nicht nur auf die Goldränder, sondern auch auf die Abbruchkanten unserer Gesellschaft", so Marx. Da spielte wohl auch seine Herkunft aus "kleinen" Verhältnissen hinein. Leiser Humor, gepaart mit einem sehr direkten Blick auf Welt vor der Tür – das macht den ganz eigenen Sound aus. Und manchmal wird der Witz auch bissig: Rex Gildo so treffend mit einem "goldbraunen Brathähnchengesicht" zu beschreiben, das kann wohl nur Wilhelm Genazino. Der Abend im Literaturhaus Oberpfalz hat jedenfalls Lust gemacht, seine Bücher wieder zu lesen.
Wilhelm Genazino: "Der Traum des Beobachters. Aufzeichnungen 1972-2018". Herausgegeben von Friedhelm Marx und Jan Bürger. Hanser Verlag, München 2023, 34 Euro.
Die Verfasserin dieses Artikels, Katharina Erlenwein, betreut im Team des Literaturhauses Oberpfalz den Bereich Presse- und Öffentlichkeitsarbeit.
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