Tännesberg
30.11.2018 - 18:00 Uhr

Kleine Wildnis zulassen

Die Biodiversität geht auf der Welt jedes Jahr um 1 bis 1,5 Prozent zurück. Für Forscher ist dies neben der Klimaerwärmung die größte umweltpolitische Herausforderung. Zehn bayerische Gemeinden stellen sich mit Tännesberg gegen den Trend.

Der Dorfweiher in Oberhof (Gemeinde Ursensollen) war verlandet und versumpft. Mit der Dorferneuerung ist er renaturiert worden. "Das ist ein reines Biotop", sagt Bürgermeister Franz Mädler. Bild: exb
Der Dorfweiher in Oberhof (Gemeinde Ursensollen) war verlandet und versumpft. Mit der Dorferneuerung ist er renaturiert worden. "Das ist ein reines Biotop", sagt Bürgermeister Franz Mädler.

"Wann haben Sie Ihren letzten Kiebitz gesehen?", fragte der Vorsitzende des Landesbunds für Vogelschutz in die Runde. Er versuchte damit im Hotel Wurzer einen wunden Punkt zu treffen. "Wir haben in den vergangenen 40 Jahren bei den Feldvögeln etwa die Hälfte der biologischen Vielfalt in der Agrarlandschaft verloren. Da gewöhnt man sich Stück für Stück dran", sagte Norbert Schäffer. Forscher würden stets wiederholen, der Klimawandel und der Verlust der biologischen Vielfalt seien die zwei größten Herausforderungen beim Umweltschutz. "Über Klimaschutz wird viel geredet. Bei der biologischen Vielfalt sieht es anders aus." Das wollen die Anwesenden an diesem Freitagvormittag ändern. Es ist die Auftaktveranstaltung zum Modellprojekt "Marktplatz der biologischen Vielfalt". Tännesberg hatte als erste bayerische Biodiversitätsgemeinde dieses Modellprojekt gestartet. Zehn bayerische Kommunen sollen von der Erfahrung der Marktgemeinde profitieren. Der "Marktplatz" hatte Rathauschefs aus allen Ecken Bayerns angezogen. Zum Projektauftakt waren neben dem LBV-Vorsitzenden und Vertretern der Partnergemeinden außerdem Landtagsabgeordneter Stephan Oetzinger, BUND-Vorsitzender Richard Mergner, der Vorsitzende der Wildlandstiftung, Eric Imm, sowie der Vorsitzende des Bayerischen Naturschutzfonds, Georg Schlapp, gekommen.

"Diese Aufmerksamkeit hat sich Tännesberg verdient", sagte Schlapp. Hier sei über Jahrzehnte am Thema Biodiversität gearbeitet worden. "Wir sind natürlich froh, dass wir diese Gemeinde haben, aber es war auch klar, dabei kann es nicht bleiben." Schlapp freute sich, dass zehn Gemeinden nun "die Flamme der Biodiversität ins Land ausrollen." Biodiversität bedeute nicht nur Erhalt von Tieren- und Pflanzenarten, sondern auch von Lebensräumen, Ökosystemen und der genetischen Vielfalt innerhalb der Arten. 84 Prozent aller Kulturpflanzen seien etwa von der Bestäubungsleistung der Insekten abhängig. Die Leistung entspreche in Deutschland etwa jährlich einem Wert von 3 Milliarden Euro. Eine große Wertschöpfung.

"Wir müssen unser Naturbewusstsein wieder stärken, damit wir überhaupt wissen, was wir verlieren. Ich muss Landschaften haben, die zeigen, was möglich ist, wenn man sich um das Thema kümmert." Und diese Landschaften müssten die Kommunen schaffen. Dabei gehe es um Identifikation und Heimat, um die Bereitschaft, eine kleine Wildnis zuzulassen. Landtagsabgeordneter Oetzinger bezeichnete die Biodiversitätsgemeinde Tännesberg als Trendsetter. Die zehn beteiligten Kommunen hätten nun die Chance, im Wettbewerb mit anderen zu punkten und ein Zeichen für biologische Vielfalt zu setzen. "In Bayern gibt es 2056 Gemeinden. Da ist noch Potenzial."

Franz Mädler, Bürgermeister von Ursensollen (Landkreis Amberg-Sulzbach) im Interview.

ONETZ: Wie lange verfolgen Sie das Thema Biodiversität?

Ich bin auf dem Bauernhof aufgewachsen, ich hatte schon immer einen Bezug zur Natur. Aber ich gebe es ganz offen zu, zu Beginn meiner Arbeit als Bürgermeister 2002 waren andere Themen im Vordergrund. Da ging‘s um die wirtschaftliche Stärkung der Gemeinde, der Region.

ONETZ: Wann ging das los?

Das ging in den vergangenen zehn Jahren so. Wir sind Teil des Naturparks Hirschwald. Wir waren die erste Gemeinde, die beschlossen hat, dass wir gentechnikfrei sind. Unsere Flächen dürfen nur Landwirte bewirtschaften, die pestizidfrei arbeiten.

ONETZ: Haben Sie sich auch um Artenschutz bemüht?

Ja natürlich, wir haben einen alten verfallenen Bräukeller zum Fledermauskeller gemacht und da sind mittlerweile drei verschiedene Fledermausarten drin. Der ist im August fertig geworden. Und wir waren die erste Gemeinde in Bayern, die ein abbruchreifes Trafohäuschen zu einem Artenschutzturm gemacht haben. Das war so erfolgreich, dass wir das gar nicht richtig einweihen konnten, weil da schon ein Wanderfalken-Pärchen drin war und gebrütet hat.

ONETZ: Und Landschaftspflege?

Wir haben Blühflächen angelegt und begonnen, alte Tümpel wieder herzurichten. Inzwischen mähen wir nur noch, was sein muss, und das auch nur zweimal im Jahr. Das haben wir in diesem Jahr erstmals umgesetzt und wir haben festgestellt, das spart uns viel Geld.

ONETZ: Also kam die Bewerbung fast von selbst.

Das war eigentlich nur eine Bestandsaufnahme von dem, was wir schon gemacht haben.

ONETZ: Was erwarten Sie sich vom Projekt?

Ich erwarte mir, dass wir uns ein bisschen auf unserem Weg bestätigt fühlen. Und vor allem neue Ansätze.

ONETZ: Welche Anregungen konnten Sie mitnehmen?

Wir werden ganz bewusst noch einmal unsere Flächen in der Gemeinde durchgehen, und zwar fast auf den Quadratmeter, um zu schauen, was kann man hier zum Thema Biodiversität noch machen.
Wir werden wahrscheinlich eine 8,5 Megawatt Photovoltaikanlage bekommen. Wir wollen diese zehn bis zwölf Hektar gemeinsam mit der Photovoltaikanlage richtig zum Biotop machen. Und was mir zum Beispiel unheimlich gefallen hat, ist das Tännesberger Rotvieh, darüber werde ich nachdenken.

Das sind die zehn Modellgemeinden:

Die Gemeinde Brennberg (Landkreis Regensburg, Oberpfalz) punktet mit Wiedervernässung von Feuchtwiesen und Totholz-Bewirtschaftung im Wald.

Die Stadt Ebern (Landkreis Haßberge, Unterfranken) betreut einen ehemaligen Standortübungsplatz mit rund 7000 verschiedenen Arten und freut sich über Wildkatzen im Stadtwald.

Die Gemeinde Kettershausen (Landkreis Unterallgäu, Schwaben) hat mit der „Riedellandschaft-Talmoore“ ein europäisches Naturschutzgebiet.

Die Stadt Lohr am Main (Landkreis Main-Spessart, Unterfranken): Hier ist die Mittelschule mehrfach ausgezeichnete Umweltschule und auch in der Erwachsenenbildung steht das Thema Umweltschutz ganz oben.

Der Markt Nordhalben (Landkreis Kronach, Oberfranken) liegt an der ehemaligen innerdeutschen Grenze. Der Grenzstreifen ist als "Grünes Band" bereits ein Rückzugsgebiet für bedrohte Tiere. Der Markt schafft durch die Rodung von Fichten und eine Entbuschung Lebensräume für Schwarzstorch, Wildkatze und Fledermäuse. Außerdem sollen überbaute Flächen entsiegelt werden.

Die Gemeinde Rohr (Landkreis Roth, Mittelfranken) zeichnet sich durch Wildkräuteräcker und Gewässerrenaturierung aus. Außerdem werden regionale Spezialitäten verkauft, die es bis zur Consumenta-Messe nach Nürnberg schaffen.

Die Stadt Rottenburg a. d. Laaber (Landkreis Landshut, Niederbayern) hat neben mehreren Biberberatern und einem Insektenmanagement auch die Bachrenaturierung im Naturschutzkonzept.

Die Gemeinde Stephanskirchen (Landkreis Rosenheim, Oberbayern) bringt sich mit der Anlage von Moortümpeln, einer Dachbegrünung und einem ökologischen Mähkonzept ein.

Der Markt Titting (Landkreis Eichstätt, Oberbayern) beweidet seine Trockenrasenflächen mit der Hilfe von Schäfern und setzt sich für den Schutz der "Berghexe" ein, einer seltenen Schmetterlingsart.

Die Gemeinde Ursensollen (Landkreis Amberg-Sulzbach, Oberpfalz) hat ein Trafohäuschen in ein Artenschutzturm und einen Felsenkeller in ein Fledermaushaus verwandelt. Vom Regen gespeiste Karstweiher sind wieder angelegt worden.

 
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