Tirschenreuth
23.12.2020 - 13:54 Uhr

Als die Eisenbahn noch durchs Wohnzimmer fuhr

"Fahrdienstleiter“ Manfred Weiß mit Schirmmütze und Umhängetasche, gab 1953 das Signal zur Abfahrt eines Zuges. Nach getaner Arbeit schlüpfte er schnell unter die Eisenbahn in sein Bett. Archivbild: pol
"Fahrdienstleiter“ Manfred Weiß mit Schirmmütze und Umhängetasche, gab 1953 das Signal zur Abfahrt eines Zuges. Nach getaner Arbeit schlüpfte er schnell unter die Eisenbahn in sein Bett.

In der Zeit, als die Dampfrösser noch zischend und schnaubend in die Bahnhöfe einfuhren und sich der Lokführer mit rußverschmiertem Gesicht aus dem Fenster lehnte, war er für viele Generationen Vorbild und Held zugleich. Er brachte nicht nur seine Fahrgäste gut ans Ziel, sondern sicherte auch den Nachschub dringend benötigter Güter. Wenn man damals einen Buben fragte, "na Kleiner, was willst du denn einmal werden?", war der Berufswunsch Lokomotivführer an oberster Stelle.

Bunte Kataloge

Die Faszination "Eisenbahn" hatte auch die Spielzeugindustrie schnell erkannt und ließ für kleine wie für große Eisenbahnbegeisterte keine Wünsche offen. Wie im Echtbetrieb rauchten schon bald die Schlote der Lokomotiven, stellten sich Weichen auf Knopfdruck um oder schlossen sich Schranken wie von Geisterhand. Die bunten Kataloge von Märklin, Trix oder Fleischmann waren in der Weihnachtszeit eine heiß begehrte Lektüre, und die Schaufenster der Tirschenreuther Spielwarengeschäfte Stahl, Bayer und Krischker brachten die Augen der Buben und Väter zum Glänzen. Auf kaum einem Wunschzettel, der in den 50er Jahren von Buben an das Christkind geschrieben wurde, fehlte die elektrische Eisenbahn. Doch nur für ganz wenige ging dieser Wunsch in Erfüllung. Es fehlte nicht nur das Geld, es fehlte auch der nötige Platz.

Platte auf dem Bettgestell

Die Wohnungen waren bis auf wenige Ausnahmen nicht größer als 50 Quadratmeter und teilten sich auf in Diele, Küche, Schlafzimmer und Wohnzimmer. Dieser Raum wurde nur an Sonn- und Feiertagen benutzt und diente gleichzeitig als Schlafraum für die Kinder. Schon den Christbaum mit echten Wachskerzen sicher unterzubringen war nicht so einfach. Wie sollte da noch eine elektrische Eisenbahn Platz finden?

Karl und Elisabeth Weiß, die im Bauverein, Paul-Straub-Straße 9, eine kleine Wohnung bezogen hatten, fanden 1953 eine Lösung, ihrem fünfjährigen Manfred den Weihnachtswunsch nach einer eigenen Eisenbahn zu erfüllen. In dem 12 Quadratmeter großen Wohnzimmer mit zwei Türen und einem Fenster fanden schließlich nach längerer Planung der Christbaum und eine Eisenbahnanlage Platz. Vater Karl Weiss baute die Holzplatte, auf der später die Züge rauschten, kurzerhand auf das Bettgestell, in dem der kleine Manfred schlief. Der Schlafplatz war nun von Hl. Abend bis Ostern zwar etwas eingeengt und nur noch 35 Zentimeter hoch, doch zwischen den Drähten und Kabeln schlief Manfred genauso gut. Dabei konnte er nämlich seiner "Eisenbahn" immer ganz nahe sein.

Manfred Weiß ist heute 72 Jahre alt und schwärmt immer noch von seiner Trix-Eisenbahn, die gut verstaut auf dem Dachboden eingelagert ist, und wie es seine Eltern schafften, trotz der beengten Wohnverhältnisse seinen Weihnachtswunsch zu erfüllen.

 
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