Geschichte von Emma schockiert

Tirschenreuth
10.07.2018 - 11:13 Uhr

Die „Demokratie-Werkstatt für alle“ macht einen Besuch bei der Ausstellung „Erinnerungs-Orte“ in Auerbach mit einem Seminar in Leichter Sprache.

Die TeilnehmerInnen der „Demokratie-Werkstatt für alle“ am Denk-Mal des Rundgangs „Erinnerungs-Orte“

Die Behinderteneinrichtung Regens-Wagner Michelfeld hat sich in besonderer Weise mit dem Thema Menschen mit Behinderung in der Zeit des Nationalsozialismus auseinandergesetzt. 16 TeilnehmerInnen mit und ohne Behinderung aus dem Landkreis Tirschenreuth machten sich im Rahmen der „Demokratie-Werkstatt für alle“ von Netzwerk Inklusion, VHS und KJR am Samstag auf den Weg nach Auerbach. Sie waren neugierig auf die Ausstellung „Erinnerungs-Orte“, die auch von Menschen mit Behinderung aus der Einrichtung Regens-Wagner Michelfeld zum Thema Euthanasie entwickelt wurde. Der Rundgang über das Gelände setzt sich mit der Geschichte der Einrichtung insbesondere in der Zeit von 1933 bis 1945 auseinander. Die Fahrt wurde gefördert im Rahmen des Bundesprogramms Demokratie leben!

In einem Seminar in verständlicher Sprache wurde die geschichtliche Entwicklung beleuchtet: beginnend mit wissenschaftlichen Studien ab 1895 zu den Themen Rassenhygiene und Legalisierung der Tötung auf Verlangen wurde zunächst in der Medizin die Grundlage geschaffen, den Wert eines Menschenlebens messbar zu machen. Diese Stimmungslage griff insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg auf die Gesellschaft über. 1920 befragte Meltzer Eltern von Kindern mit Behinderung, die in Anstalten lebten, ob sie einer Tötung aus Mitleid bei ihrem unheilbar behinderten Kind zustimmen würden. 73 Prozent stimmten mit Ja. Eines der ersten Gesetze der Nationalsozialisten war 1933 ein Gesetz zur Zwangssterilisation, zur „Verhinderung erbkranken Nachwuchses“.

Propaganda darüber, wie viel „ein Erbkranker“ die Gesellschaft auf Lebenszeit kostet und Hochrechnungen darüber, heizten die Stimmung an. 1939 ermächtigte Hitler bestimmte Ärzte, behinderte und unheilbar kranke Menschen zu ermorden. In ordentlich deutscher Manier wurden im ganzen Reichsgebiet Meldebögen zum Thema Behinderung verschickt. Es wurden sechs Tötungseinrichtungen eingerichtet, in die die Menschen aus den bisherigen Pflegeanstalten verlegt und getötet wurden. Die legendären „grauen Busse“ waren landläufig bekannt. Die Familie bekam einen Trostbrief unter Angabe falscher Todesursachen. Diese Tötungseinrichtungen dienten auch medizinischen Experimenten: Vergasen, Töten durch Medikamente und Verhungern lassen, sog. Hungerkost. Sie waren Versuchslabor für die Konzentrationslager. 1941 wurden die Aktion T4 und 14f13 aufgrund öffentlicher Proteste offiziell beendet, heimlich jedoch fortgesetzt. Auf diese Weise wurden mindestens 260.000 Kinder und Menschen mit psychischer Erkrankung oder Behinderung in den Tod geschickt.

Besonders berührend für die TeilnehmerInnen war der Fall von Emma Wilmersdörfer. Sie war ein Opfer der Aktion T4. Die Jüdin Emma war verheiratet und hatte vier Kinder. Sie war psychisch krank und lebte seit 1935 in der Taubstummenanstalt Michelfeld. Im September 1940 wurde sie gemeinsam mit drei anderen jüdischen Bewohnerinnen in einem ersten Transport von Michelfeld in die damalige Heil- und Pflegeanstalt nach Eglfing-Haar verlegt. Eine Woche später wurde sie von dort in die Tötungsanstalt nach Schloss Hartheim in Österreich gebracht. Emma Wilmersdörfer wurde dort vergast und anschließend verbrannt. Sie war 57 Jahre alt, als sie ermordet wurde. Ihr Schicksal war den Angehörigen lange unbekannt. Im Rahmen der Aufarbeitung der Einrichtungsgeschichte in Auerbach stießen die MitarbeiterInnen auf umfangreiche Akten zu ihrem und anderen Fällen.

Auf dem Rundgang in Auerbach gibt es eine Station, an der Emma stellvertretend für die vielen Opfer gedacht werden kann. Zwei unbeschriftete Gedenksteine an einem Bäumchen laden dazu ein, eigene gestaltete und nichtgestaltete Steine im Anklang an die jüdische Tradition zum Gedenken abzulegen.

Referentin Sabrina Renk verlas dort eine aktuelle Anfrage der AfD im Bundestag zur Verbindung zwischen Migration, Inzest und Behinderung vor. Das zeigt, dass das Thema leider nicht nur geschichtlich ist und ad acta gelegt werden kann, sondern auch in Zeiten von Grundgesetz, Menschenrechten und Inklusion unter der Oberfläche schwelt.

„Es braucht Menschen, die zeigen, dass sie selbstverständlich dazugehören und mittendrin leben – egal, was sie können oder nicht können, wie sie aussehen oder wo sie herkommen. Lassen wir nicht zu, dass sich wieder eine solche Stimmung aufbaut, in der man bereit wird, „unnütze“ Menschen auszusortieren!“, so Martina Sötje von der SHG Behinderte-Nichtbehinderte. „Es braucht Menschen, die immer wieder für Würde und Teilhabe eintreten und der Diskussion über unterschiedliche Wertigkeit von Menschen entgegentreten“, so Christina Ponader vom Netzwerk Inklusion. „Das ist Aufgabe der Politik, der Rechtsprechung und gesellschaftlichen Gruppen wie der SHG, des Netzwerks Inklusion und allen Sozialverbänden. Im Grunde müsste jeder Bürger, jede Bürgerin für Menschenwürde und gegen Diskriminierung und Hetze einstehen. Wie schnell geht es, dass man selbst zum „Opfer“ wird. Und dann kann man nur hoffen, dass die Anderen nicht wegschauen.“

In der Abschlussrunde endete die Gruppe mit dem tröstlichen Gedanken: jeder einzelne kann den Unterschied machen. Jeder ist Vorbild. Wir können uns dafür einsetzen, dass jeder einen guten Platz in der Gesellschaft hat.

 
 

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