Tirschenreuth
23.12.2019 - 14:09 Uhr

"Mehler Christl" bis heute unvergessen

Die Not der Menschen machte gerade Weihnachten früher zu einer bitteren Zeit. Doch oft kam Hilfe von betuchten Zeitgenossen, die sich der armen Geschöpfe annahmen.

Heiliger Abend 1937 im Wohnzimmer der Familie Ludwig Mehler: (von links) „Mehler Christl“, die Eltern Ludwig und Meta mit den Söhnen Alfred, Georg und Ludwig. Archivbild: Alfred Mehler/exb
Heiliger Abend 1937 im Wohnzimmer der Familie Ludwig Mehler: (von links) „Mehler Christl“, die Eltern Ludwig und Meta mit den Söhnen Alfred, Georg und Ludwig.

Junge Mütter, die vor gut 100 Jahren alleinerziehend waren, hatten es nicht leicht, den Lebensunterhalt für sich und ihr Kind zu bestreiten. Den Weg zur Fürsorgestelle gab es noch nicht und eine Vaterschaftsklage hatte wenig Aussicht auf Erfolg. In den meisten Fällen kam rettende Hilfe von nahe stehenden Angehörigen, die in ihren beengten Wohnverhältnissen noch enger zusammen rückten und ihr karges Essen teilten.

Nicht selten wurden diese Kinder, aus der Not heraus, im Alter von nur fünf, sechs Jahren zu einem Bauern abgegeben, bei dem sie Schafe und Gänse hüten mussten. Als Lohn bekamen sie Essen und einen Schlafplatz auf einem Heuboden. Wie in anderen Orten auch, gab es in Tirschenreuth betuchte Bürger, die sich dieser armen Geschöpfe annahmen und für sie die Patenschaft bei der Taufe oder Firmung übernahmen. Auch am Heiligen Abend wurden diese Kinder nicht vergessen und oft großzügig mit Geschenken bedacht.

Bitte um Arbeit

Einer dieser großzügigen und christlich eingestellten Männer war der Tuch- und Zeugmacher Paul-Joseph Mehler. Er besaß 1875 ein geräumiges Wohnhaus in der Hochwartstraße, das er mit seiner sechsköpfigen Familie bewohnte. Unter dem Dach standen acht Webstühle, an denen von früh bis spät Tuche von bester Qualität hergestellt wurden. An Weihnachten 1875 trat die alleinerziehende Mutter Franziska H. in ihrer bitteren Not an den Tuchmacher heran und bat ihn, ihrem siebenjährigen Buben Arbeit und Brot zu geben. Noch am gleichen Tag nahmen sich die Mehlers des kleinen Christian an und sorgten für ihn, als wäre er ihr eigenes Kind.

Der Mehler Christl

Christian H. wuchs heran und war bald in Tirschenreuth nur noch als "Mehler Christl" bekannt. Wie die leiblichen Söhne der Familie Mehler auch, erlernte Christian das Tuchmacherhandwerk und wurde in der Textilfachschule in Aachen zum Textilingenieur ausgebildet.

Nach dem Tod von Paul-Joseph Mehler übernahmen die Söhne Ignaz und Ludwig den elterlichen Betrieb und bauten 1896 eine moderne Tuchfabrik an der Bahnhofstraße. Christians Fachwissen und seine tatkräftige Unterstützung waren dabei immer gefragt und willkommen. Das änderte sich auch nicht, als nach dem Tod von Ignaz Mehler dessen vier Söhne die Fabrik führten und mit ihren vier Familien das große Wohnhaus neben der Tuchfabrik bewohnten. Christian, der ehelos geblieben war, bewohnte zwei kleine Räume unter dem Dach und wurde täglich von der Familie Ludwig Mehler mit Essen versorgt. Er hatte längst die verwaiste Opa-Rolle für die drei Buben der Familie übernommen und war bei allen Festen mit dabei, so auch am Heiligen Abend 1937.

Als man sich neun Jahre später wieder Weihnachten am Christbaum versammelte, war die Welt eine andere geworden. Der Zweite Weltkrieg, der sechs lange Jahre gewütet und eine Spur des Todes und der Verwüstung hinterlassen hatte, war 1945 zu Ende gegangen. Georg, der zweitälteste Sohn der Familie Ludwig Mehler, wurde seit Kriegsende in Russland vermisst und man wartete täglich auf ein Lebenszeichen von ihm. In Tirschenreuth hatten nun die Amerikaner das Sagen und richteten im stattlichen Mehler-Haus ihre Kommandantur ein. Die Familie Ludwig Mehler wurde angewiesen, binnen weniger Stunden ihre Wohnung zu verlassen und nur das Nötigste mitzunehmen.

Weihnachten auf engstem Raum

Für Christian, der inzwischen 79 Jahre alt geworden war, kam nun der Augenblick, sich für alles Gute, dass er durch die Familie Mehler in all den Jahren erfahren durfte, dankbar zu erweisen. Er überließ seine kleine Dachwohnung der Familie Mehler und nahm mit einer Dachkammer vorlieb, die einmal einem Hausmädchen als Schlafplatz gedient hatte. Der Heilige Abend 1946 war für die Familie Ludwig Mehler, wie für viele andere auch, die einen Angehörigen im Krieg verloren hatten, ein bitteres Weihnachtsfest. Die Hoffnung, von Sohn Georg ein Lebenszeichen zu erhalten, hatte sich nicht erfüllt. Auf engstem Raum wurden die Kerzen eines kleinen Christbaumes entzündet und die Bratwürste gegessen, die es traditionell gab. Alfred, der jüngste Sohn, spielte ein paar Weihnachtslieder auf seinem neuen Schifferklavier und mit der Hoffnung, dass sich die Zeiten wieder zum Guten wenden mögen, ging der Abend seinem Ende zu.

Webmeister Christian H. starb am 11. März 1952 nach einem erfüllten Leben im Alter von 84 Jahren. Er ist bis heute als "Mehler Christl" in der weit verzweigten Mehler-Familie unvergessen geblieben.

Heiliger Abend 1946 nach der Ausquartierung im zweiten Stock: (stehend von links) Ludwig jun., Ludwig sen. und Meta Mehler, (sitzend) Inge Mehler, Ehefrau von Ludwig Mehler jun., und Christian H.; vorne Alfred Mehler. Archivbild: Alfred Mehler/exb
Heiliger Abend 1946 nach der Ausquartierung im zweiten Stock: (stehend von links) Ludwig jun., Ludwig sen. und Meta Mehler, (sitzend) Inge Mehler, Ehefrau von Ludwig Mehler jun., und Christian H.; vorne Alfred Mehler.
 
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