„Das ist doch unser Geheimnis“, mit diesen Worten deckte die Mutter ihren Söhnen gegenüber die Vergangenheit zu – der Nationalsozialismus war kein Thema in der Familie. Dabei wäre Anlass genug für Auseinandersetzungen gewesen: „Ich bin dankbar, dass er exekutiert wurde“, sagt der 76-jährige Ralph Schwerdt, und er meint damit seinen leiblichen Vater, den KZ-Kommandanten Martin Gottfried Weiß. Im Rahmen der Sonderausstellung „Dachauer Prozesse - Verbrechen, Verfahren und Verantwortung“ war Schwerdt zusammen mit Ehefrau Helga und Sohn Tammo aus Hamburg, wo die Familie lebt, in die KZ-Gedenkstätte nach Dachau gekommen. Dort sprach er familienbiografisch über die Täter der NS-Zeit.
In Weiden geboren
Sein Vater Martin Gottfried Weiß stammte aus Weiden und hatte schon mit 18 Jahren Kontakt zu rechtsextremen Gruppierungen. 1933 trat er in die Wachmannschaft des KZ Dachau ein. Er wurde später zum Lageringenieur ernannt und 1938 zum Adjutanten des Lagerkommandanten befördert. Im April 1940 erhielt Weiß den Auftrag, das KZ Neuengamme bei Hamburg zu einem eigenständigen Hauptlager auszubauen.
Im September 1942 wurde er Lagerkommandant in Dachau. 1943 bis Mai 1944 war Weiß Kommandant des Konzentrations- und Vernichtungslagers Majdanek, danach war er als hochrangiger SS-Offizier für den Dachauer Außenlagerkomplex Mühldorf zuständig. Im Dachau-Hauptprozess wurde Weiß im Dezember 1945 zum Tode verurteilt und am 29. Mai 1946 im Gefängnis Landsberg hingerichtet.
Typische Familiengeschichte
Zu dieser Zeit war Ralph Schwerdt noch ein Kleinkind, den leiblichen Vater hat er nie kennengelernt. Die Mutter heiratet später wieder, der Stiefvater ist Arzt bei der Bundeswehr, freilich auch ein „Nazi“, wie Schwerdts Sohn Tammo erzählt. Die Familiengeschichte scheint typisch für die 1950er-Jahre in der Bundesrepublik gewesen zu sein: Die NS-Zeit war tabu. Aber alte Kameraden gehen ein und aus. Der kleine Ralph soll schon mal mit Stahlhelm und Offiziersdegen im Stechschritt durch das Wohnzimmer laufen.
1961 besucht die Familie das Grab des Vaters in Landsberg. Erst als Student beginnt Ralph Schwerdt, sich mit seinem leiblichen Vater und der Nazi-Geschichte der Familie verstärkt auseinanderzusetzen. Er verzichtet auf seinen zweiten Vornamen „Martin“. Aber auch mit dem Stiefvater ist keine Auseinandersetzung über die NS-Zeit möglich.
Schock im Urlaub
1971 unternimmt Schwerdt mit seiner späteren Frau Helga eine Reise in die Türkei und erzählt von seinem leiblichen Vater. „Das war ein Schock“, erinnert sich Helga Schwerdt, „die NS-Zeit war ja so weit weg gewesen, und jetzt plötzlich ganz nah“. Am Ende der Reise besuchen sie das KZ Dachau. Zur Mutter fährt man nur noch am Wochenende. Wie diese ihren ehemaligen Mann verherrlicht habe, sei „furchtbar“ gewesen. „Wir haben diese Abende über uns ergehen lassen“, sagt Helga Schwerdt.
Aktenstudium
Sohn Tammo hat relativ spät die Wahrheit über seinen Großvater erfahren. „Wir hatten Angst davor, wie die Kinder reagieren“, sagt Helga Schwerdt. Danach studierte der Sohn erstmal jede Menge Gerichts-Akten zu Martin Gottfried Weiß.
Erst als Ralph Schwerdt seine Hausarztpraxis an den zweiten Sohn übergeben hatte, ging er zusammen mit seiner Frau an die Öffentlichkeit, was die Familiengeschichte anbelangt. Sie nahmen im KZ Neuengamme an einem Seminar zum Thema „Ein Täter, Opfer, Zuschauer, Mitläufer in der Familie?“ teil und Helga Schwerdt führte in der Gedenkstelle Besuche mit Schulklassen. Seither sind die Schwerdts in Sachen Erinnerungsarbeit aktiv.
Sonderausstellung "Dachauer Prozesse – Verbrechen, Verfahren und Verantwortung"
- Ort: KZ-Gedenkstätte Dachau
- Öffnungszeiten: täglich von 9 bis 17 Uhr
- Eintritt: kostenlos
- Zeitraum: noch bis Februar/März 2023
Martin Gottfried Weiß
- Geboren am 3. Juni 1905 in Weiden
- 1932 Gründungsmitglied der Weidener SS
- Kommandant der KZ Neuengamme, Dachau und Majdanek
- Als SS-Obersturmbannführer Beförderung zum Inspekteur der Konzentrationslager
- März 1945 Rückkkehr nach Dachau und Aufsicht über das Lager in den letzten Kriegsmonaten
- Bei Annäherung der siebten amerikanischen Armee Flucht in Zivilkleidung
- Gefangennahme am 2. Mai 1945
- Hauptangeklagter des am 15. November 1945 beginnenden Dachauer Prozesses
- Hinrichtung am 29. Mai 1946
Quelle: United States Holocaust Memorial Museum, www.ushmm.org
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