Vieles war unklar, als die Polizei sowie Rettungskräfte des Roten Kreuzes und der Feuerwehr in der Nacht zu Sonntag zum Unteren Markt eilten. Das Ausmaß der per Notruf gemeldeten Lage wurde erst mit dem Bericht der ersten Einsatzkräfte deutlich. „Es war ein Riesen-Szenario“, sagt Jürgen Meyer, Leiter der Integrierten Leitstelle (ILS) Nordoberpfalz, am Montag. Bei der Leitstelle sei ein Notruf eingegangen, dass es drei oder vier Personen in einem der Altstadt-Lokale nicht gut gehe. Gudrun Graf, Ärztliche Leiterin des Rettungsdienstes, war als erste Notärztin vor Ort. Bei einem solchen Notruf rechne man mit einer Lebensmittelvergiftung oder allergischen Reaktion, erzählt sie. Wie sich am Montag herausstellte, vergifteten sich die insgesamt acht Betroffenen jedoch an einer mit flüssigem Ecstasy versetzten Flasche Champagner. Einer der Restaurant-Gäste starb noch in der Nacht. „Auf so etwas Exotisches sind wir alle nicht gekommen“, sagt die Notärztin. Die Schwierigkeit habe für die Rettungskräfte in der zunächst völlig undurchsichtigen Lage bestanden.
Situation veränderte sich schnell
„Nach Eintreffen des Rettungsdienstes zeigte sich den Kollegen vor Ort ein anderes Bild, als beim Notruf mitgeteilt worden war. Die Situation hatte sich dramatisch schnell verändert“, schildert ILS-Leiter Meyer. Deshalb seien weitere Kräfte alarmiert worden. Bei „normalen“ rettungsdienstlichen Einsätzen sei „der eine Patient“ meistens bekannt – ganz im Gegenteil zu dem Geschehen in dieser Nacht. „Das fordert nicht nur die Kräfte vor Ort, sondern auch alle anderen Beteiligten wie die ILS, die Kliniken oder auch die Polizei“, so Meyer. Man habe zuerst nicht gewusst, woher die Vergiftungssymptome stammten. „War es etwas in der Luft? War es Gas? Etwas im Essen oder in den Getränken?“ Anfangs seien Blausäure und E 605, ein Insektizid, im Gespräch gewesen. „Es gab viele Vermutungen.“ Polizisten hätten die Altstadt mit Taschenlampen abgesucht, um mögliche weitere Verletzte zu finden.
Weil auch ein Gasaustritt infrage gekommen sei, hätten Retter Verletzte über die Schulter gelegt und aus dem Gebäude getragen. Draußen hätten einige Verletzte zu krampfen angefangen. Um die Patienten vor neugierigen Blicken zu schützen und Spuren sichern zu können, wurde der Bereich rund um das Lokal großräumig abgesperrt. Die Notärztin spricht von einer „merkwürdigen Situation“. Die Pupillen der Patienten seien stark erweitert gewesen. Manche hätten draußen gesessen oder gelegen und seien von Privatpersonen betreut worden. Die meisten von ihnen seien ansprechbar gewesen.
Bevor sie mit der Versorgung einzelner Personen begann, verschaffte sie sich einen Überblick, um zu sehen, wer am dringendsten Hilfe benötigte. Im zweiten Obergeschoss des Lokals hätten die Helfer zwei schwer- beziehungsweise schwerstkranke Personen vorgefunden. Weil die räumlichen Verhältnisse sehr beengt gewesen seien, sei es nicht möglich gewesen, Tragen für deren Transport hinaufzubringen, so Graf. Polizisten hätten geholfen, die Patienten hinunterzutragen.
524 mögliche Einsatz-Szenarien
Graf blickt auf 20 Jahre Erfahrung als Notärztin zurück. Sie sagt, die Nacht zum Sonntag sei für sie der „extremste Einsatz in der Größe bisher“ gewesen. Zwar übten Rettungsdienstler solche Großschadensfälle jedes Jahr – zuletzt im Oktober einen Großunfall – doch so etwas wie am Wochenende habe sie noch nie erlebt. Auch Meyer bezeichnet den Einsatz als „einmalig“. Der ILS-Leiter schildert gegenüber Oberpfalz-Medien, wie ein solcher Einsatz koordiniert wird. Denn so ungewöhnlich dieser Notfall war, so standardisiert waren die Abläufe. Wann immer jemand den Notruf betätigt, löst er einen streng strukturierten Apparat aus.
Dem Disponenten, der den Notruf entgegen nimmt, stehen für den Bereich Rettungsdienst und Feuerwehr 524 Schlagworte zur Verfügung. Diese stehen sozusagen stellvertretend für 524 mögliche Szenarien. Das auf die geschilderte Situation zutreffendste Schlagwort wählt der Disponent zur Alarmierung aus. „Für jedes dieser Schlagworte wurde vorab beplant, welche Einsatzmittel, also Fahrzeuge vor Ort beispielsweise zur Rettung, erforderlich und notwendig sind“, erläutert Meyer. Vom brennenden Mülleimer über Herzinfarkte, Wohnungsbrände bis hin zu größeren Einsätzen gebe es festgelegte Mindestanforderungen. Und die seien auch am Wochenende und nachts erfüllbar. „Wochentag und Uhrzeit dürfen keinen Unterschied machen.“ Die Pläne würden drei bis vier Mal pro Jahr fortgeschrieben.
Wenn Patienten wie in der Nacht zu Sonntag Symptome einer Vergiftung zeigen, ohne dass die Ursache bekannt ist, geht es zunächst darum, Kreislauf und Atmung zu prüfen und zu erhalten, ergänzt die Notärztin. Vor ihr seien bereits zwei mit je mindestens vier Rettern besetzte Sanka am Lokal eingetroffen. „Es waren sehr kompetente Kollegen dort“, betont sie. Auch die Zusammenarbeit zwischen ILS, BRK, Polizei und Einsatzleitung habe „perfekt funktioniert“, bilanziert Meyer.
Zu den nachalarmierten Kräften gehörten auch Ehrenamtliche der Unterstützungsgruppe, die den Rettungsdienst bei Bedarf verstärkt, und der in Neustadt stationierten Schnelleinsatzgruppe „Behandlung“. Diese ist darauf spezialisiert, in einer Großlage mehrere Personen zu versorgen und bei Bedarf Zelte mit Liegen und Ausrüstung aufzubauen, wie Sandro Galitzdörfer, Kreisgeschäftsführer des BRK-Kreisverbands Weiden-Neustadt, erklärt. Das sei am Wochenende nicht nötig gewesen. Aber bei Einsätzen wie diesem zeige sich, wie wichtig das Engagement dieser Ehrenamtlichen sei.
Im Einsatz waren auch die Weidener Feuerwehr sowie die Stadtwerke. „Unsere Hauptaufgabe war es, unter schwerem Atemschutz Messungen durchzuführen“, sagt Zugführer Alexander Kraus, der in der Nacht vor Ort war. Es habe kurzzeitig der Verdacht bestanden, das Gift in der Flasche könnte ausgasen. Die Messgeräte von Feuerwehr und Stadtwerken könnten eine große Anzahl von Stoffen wie Kohlenmonoxid, explosionsgefährliche Substanzen oder Salzsäure lokalisieren. Es sei jedoch außerhalb der Flasche „keine Konzentration von irgendwas gefunden worden, was für den Menschen gefährlich ist“.
Lehren aus der Pandemie
Die Geschehnisse dieser Nacht beschäftigen nicht nur Staatsanwaltschaft und Polizei, sondern auch die Rettungskräfte. „Ich habe mich am Montag nach meinen Patienten erkundigt“, erzählt die Notärztin. Es werde mehrere Nachbesprechungen geben, so wie es bei Großeinsätzen üblich sei. Bei Bedarf gebe es auch die Möglichkeit einer professionellen Nachsorge für Rettungskräfte, die der Einsatz besonders belastet hat. Jürgen Meyer berichtet, die Coronapandemie habe die Menschen, die im Rettungswesen arbeiten, noch mehr zusammengeschweißt.
Vergiftungen in der Weidener Altstadt
- **Das ist passiert.** In der Nacht zu Sonntag vergifteten sich acht Personen (sieben Gäste und die Wirtin) in einem Lokal am Unteren Markt, als sie aus einer Champagnerflasche tranken.
- **Ein Toter, mehrere Verletzte:** Ein Mann überlebte die Vergiftung nicht. Die anderen Patienten kamen ins Weidener Klinikum und in Krankenhäuser in Amberg und Regensburg. Sie sind außer Lebensgefahr.
- **Das Gift:** Leitender Oberstaatsanwalt Gerd Schäfer bestätigte am Montag, dass es sich bei der Substanz in der Flasche um die chemische Substanz MDMA handelt, landläufig als Ecstasy bezeichnet.
- **Die Herkunft:** Wie das Gift in die Flasche kam, ist unklar. Einen Anschlag auf die Gäste oder die Betreiber des Restaurants schließen die Ermittler aus.
- **Das Lokal:** bleibt vorerst geschlossen
- **Einsatzkräfte und -mittel:** 5 Notärzte, 1 Sanitätseinsatzleitung (SanEL), bestehend aus Organisatorischem Leiter und Leitendem Notarzt, 9 Rettungswagen, 1 Intensivtransporthubschrauber, 3 Fahrzeuge der Schnelleinsatzgruppe „Behandlung“, unterstützt durch 2 Einsatzleiter Rettungsdienst und die Unterstützungsgruppe SanEL, 5 Fahrzeuge der Feuerwehr mit 19 Kräften, Stadtwerke Weiden
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