Weiden in der Oberpfalz
27.09.2018 - 17:55 Uhr

In der Pflege droht Fiasko

"Wenn sich in ganz naher Zukunft nichts ändert, steuern wir auf ein Fiasko zu." Das sagt Thomas Baldauf, Pflegedirektor der Kliniken Nordoberpfalz AG. Der Pflegenotstand ist auch ein Thema im Wahlkampf. Doch von der Politik ist wiederum die Gewerkschaft enttäuscht.

Beschäftigte aus Krankenhäusern und Pflegediensten in ganz Deutschland, wie hier in Thüringen, sind unzufrieden mit ihren Arbeitsbedingungen. Auch die Kliniken Nordoberpfalz spüren Einsparungen. Bild: Bodo Schackow/dpa
Beschäftigte aus Krankenhäusern und Pflegediensten in ganz Deutschland, wie hier in Thüringen, sind unzufrieden mit ihren Arbeitsbedingungen. Auch die Kliniken Nordoberpfalz spüren Einsparungen.

Beim Thema Pflege ist Baldauf unparteiisch. "Ich bin von allen Parteien maximal enttäuscht", sagt er. Versprechungen würden nicht eingelöst.

Als Beispiel nennt er die Ankündigung des Ministerpräsidenten Markus Söder, als er vor einigen Jahren noch Gesundheitsminister war. Eine Pflegekammer wollte er einführen, eine Interessensvertretung für Hunderttausende Pflegekräfte in Bayern, ähnlich wie die von Apothekern und Ärzten. "Da wurde groß getönt, passiert ist nichts."

Kranke leben länger

Dabei sieht Baldauf, der selbst lange Krankenpfleger auf der Intensivstation war und seit 2004 verantwortlich für den Pflegedienst bei den Kliniken ist, dringenden Handlungsbedarf. "Wenn wir jetzt nicht in die Gänge kommen und grundlegend was ändern, dann kommt es wirklich zum Chaos." Das habe auch demographische Gründe. Den geburtenstarken Jahrgängen stünden bald überaus schwache gegenüber. "Dazu kommt, die Multimorbidität. Wir werden kränker, aber leben länger." Der Fokus auf Roboter und Technik könne das nicht ausgleichen. "Dann müssen massiv Pflegekräfte aus dem Ausland herangeschafft werden."

Überstunden chronisch

Rund 1665 Pflegekräfte arbeiten nach Auskunft von Baldauf in der Kliniken Nordoberpfalz AG. Die Planstellen in Vollkraftstellen inklusive Auszubildende (166) und Pflegepädagogen (21,5) belaufen sich auf 1041 Stellen. Die Überlastung der Pflegekräfte erkennt man am Arbeitszeitkonto: Durchschnittlich trägt jeder Pflegemitarbeiter 20 bis 30 Überstunden im Monat mit sich herum. "Manche haben 150 Überstunden, manche nur 10", erklärt der Pflegedirektor.

Manuela Dietz, Bezirksgeschäftsführerin der Gewerkschaft Verdi, kennt die Auswirkungen auf das Personal. "Die Beschäftigten sind massiv überlastet und resigniert. Sie sehen, dass sich eh nichts ändert und fühlen sich von der Politik allein gelassen", stellt sie fest. Viele wollten raus aus dem Beruf, lassen sich komplett umschulen. Andere gehen in Teilzeit. "Um der extremen Belastung zu entfliehen", wie Dietz erklärt. Auch in der Kliniken AG ist die Mehrheit der Pflegekräfte in Teilzeit. Laut Baldauf liege die Quote bei 60 Prozent, mit 10 bis 35 Stunden pro Woche. Dietz stellt fest: "Der Fachkräftemangel ist nicht so gravierend. Die Fachkräfte sind da, sie sind nur nicht bereit, voll zu arbeiten."

Dazu kommt, dass es den Kliniken zunehmend schwerfällt, Nachwuchs zu finden. Die Zahl der Bewerber in der klinikeigenen Schule für Krankenpflege "New Life" ging massiv zurück. Ende der 1980er waren es noch 500 Bewerber, erinnert sich Baldauf. Dieses Jahr waren es 180 (wir berichteten). Baldauf stimmt zu, was auch viele Politiker bemängeln: Die Pflege erfährt keine Wertschätzung. "Man verwehrt der Pflege ganz viel." In den vergangenen Jahren sei massiv in Ärzte investiert, der fast exakt gleiche Betrag jedoch bei Pflegekräften gestrichen worden.

Extreme Belastung

Der Bereich Pflege wurde auch noch stark bürokratisiert. "Es gab eine extreme Leistungsverdichtung", kritisiert Baldauf. "Die Wirtschaftlichkeit wird auf dem Rücken der Pflege ausgetragen." Die Schuld dafür sieht er ganz klar in der Landespolitik. "Bayern kommt seiner Aufgabe nicht nach. Das Land muss das Investitionsvolumen für die Kliniken erhöhen." Als Lösung schlägt er ein komplett anderes Abrechnungssystem vor. Es müsse eine realistische Planung und rechtsverbindliche Finanzierung geben.

Auch hier ist Dietz einverstanden. Die konkreten Vorschläge der beiden: Personal und der Pflegeaufwand müssen realistisch bemessen werden, die Krankenkassen müssen den Aufwand bezahlen, das Geld muss wirklich bei der Pflege ankommen. Die Realität sieht anders aus, erklärt Baldauf. Derzeit habe er einen Fixbetrag pro Jahr zur Verfügung, den er für die Pflege ausgeben kann, unabhängig vom tatsächlichen Aufwand.

Ein wichtiges Schlagwort für Dietz ist die Entlastung. Die Gewerkschafterin fordert: "Die Leute brauchen Zeit, um die wichtigen Momente der Fürsorge zu schenken, die auch für die Pflegenden unheimlich wichtig sind. Wir müssen raus aus dem ,Du musst'." Man dürfe sich nicht an bloßer Wirtschaftlichkeit orientieren. "Krankenhaus ist nicht Wirtschaft. Und Gesundheit ist kein Markt." Verdi startete mit anderen Parteien und Organisationen das Volksbegehren "Stoppt den Pflegenotstand an Bayerns Krankenhäusern".

Kommentar:

Geld, nicht nur Lob

Die Fortschritte in der Medizin sind phänomenal. Die Folge: Wir leben länger und gesünder. Die Kehrseite: Die Wahrscheinlichkeit steigt, dass wir länger krank sind und an vielen Krankheiten gleichzeitig leiden. Das heißt „Multimorbidität“. Dieses Phänomen stellt enorme Herausforderungen an das Gesundheitssystem, vor allem an die Pflege. Denn alte Menschen können jahrzehntelang etwa gleichzeitig an Inkontinenz, Rückenschmerzen und Demenz leiden und trotzdem über 100 Jahre alt werden.
Eine Pflegekraft, die sich in Deutschland im Durchschnitt um 13 Patienten kümmern muss, reicht da nicht aus. Auch der Pflegestandard in Bayern ist schlecht. Es fehlt massiv an Geld und Personal, das zeigen nicht nur die Kommentare der Gewerkschafterin und des Pflegedirektors in Weiden. Der Freistaat ist so stolz auf seinen weiß-blauen Himmel und sorgt sich nur kümmerlich um seine Bewohner im Alter.
Höhere Wertschätzung für Pflegekräfte, wie einige Politiker im Wahlkampf fordern, reicht nicht. Einer Pflegekraft mit Burnout hilft es nicht viel, wenn sie für ihre Arbeit gelobt wird. Und der Vorschlag von Gesundheitsminister Jens Spahn, dass Teilzeit-Pflegekräfte mehr arbeiten sollen, ist angesichts der extremen Überlastung vollkommen sinnfrei. Es braucht schnell Geld, das sich am Aufwand der Pflege orientiert und beim Personal und den zu Pflegenden ankommt – und nicht leere Wahlkampf-Versprechen.

 
Kommentare

Um Kommentare verfassen zu können, müssen Sie sich anmelden.

Bitte beachten Sie unsere Nutzungsregeln.

Klicken Sie hier für mehr Artikel zum Thema:
Zum Fortsetzen bitte

Sie sind bereits eingeloggt.

Um diesen Artikel lesen zu können, benötigen Sie ein OnetzPlus- oder E-Paper-Abo.