19.32 Uhr. Elena Singers Handy klingelt. „Ihr habt noch etwas übrig? Eine Autoladung oder zwei? Es kommt sofort jemand vorbei.“ Die 22-Jährige ist Foodsharing-Botschafterin für den Bezirk Amberg und den Landkreis Amberg-Sulzbach. 2020 gründete die gebürtige Hoferin „Foodsharing Amberg und Umgebung“ als Teil der deutschlandweit agierenden, ehrenamtlich aufgebauten Foodsharing-Aktion. „In Hof gab es das schon. Als ich für mein Studium nach Amberg gezogen bin, habe ich es hier vermisst. Ich interessiere mich schon seit Jahren für Nachhaltigkeit und die Idee, Lebensmittel zu retten anstatt sie wegzuwerfen. Also wollte ich aktiv werden.“ Um einen neuen Bezirk gründen zu können, liest sich Elena ein, bewältigt einen Wissenstest, wird selbst Foodsaverin und Botschafterin. „Das alles hat etwa zwei Monate gedauert. Dann war es geschafft.“ Es ist der Beginn der Rettungseinsätze – und eines ehrgeizigen Zieles: „Wir sammeln genießbare Lebensmittel von Privatpersonen oder Restaurants und Unternehmen ein, bevor sie im Müll landen, und verteilen sie an Menschen, die einen Nutzen aus ihnen ziehen können. Wir stellen sie jedem zur Verfügung, der sie gerne essen oder weiterverarbeiten möchte.“
Elena lacht, als sie an die ersten Abholungen Mitte Oktober 2020 denkt: „Die liefen ziemlich schleppend. Die Menschen kannten Foodsharing noch nicht – und viele waren skeptisch, bis ich ihnen erklärt habe, worum es geht.“ Das Prinzip ist so einfach wie effektiv – und offen für jeden, der sich beteiligen möchte: Organisiert wird die Lebensmittelrettung über die Webseite foodsharing.de. Es gibt drei Säulen: Privatpersonen, die übrig gebliebene Lebensmittel als sogenannte „Essenskörbe“ online für andere bereitstellen – „etwa, wenn sie in den Urlaub fahren und merken, dass sie zu viel zu Hause haben, es aber nicht wegwerfen wollen“, erklärt Singer. Eine weitere Rolle übernehmen Foodsaver, die in der Stadt um im ganzen Landkreis Essbares abholen, damit es nicht einfach in der Tonne landet. Und Betriebsverantwortliche, die Unternehmen ansprechen und sie von der Idee überzeugen.
225 Rettungseinsätze
Die Erfolge sind beachtlich. „Seit der Gründung hatten wir in der Region 225 Rettungseinsätze und konnten über vier Tonnen Lebensmittel retten“, freut sich Elena Singer. „Hauptsächlich sind es Körbe voll Obst und Gemüse, aber auch Reste von Imbissen oder Sandwiches. Wir haben inzwischen Kooperationen mit vier Betrieben geschlossen, bei denen wir regelmäßig abholen. Unser Ziel ist es, noch mehr für uns zu gewinnen und weitere Foodsaver auszubilden, um ein größeres Netzwerk gegen die Verschwendung aufzubauen.“ Elena Singer selbst ist mehrmals pro Woche als Foodsaverin unterwegs – genau wie die 31-jährige Julia Etzold. „Ich habe mich schon immer für den Umweltschutz und Nachhaltigkeit interessiert. Ich habe viel recherchiert und bin auf ,Foodsharing‘ gestoßen.“ 2021 lässt sich Julia zur Foodsaverin ausbilden. „Dafür habe ich eine Infoveranstaltung besucht und einen Wissenstest absolviert.“ Seit über einem Jahr ist sie nun aktiv. Insgesamt sind rund 35 Lebensmittelretter in Amberg und dem Landkreis im Einsatz, um zum Teil ganze Wagenladungen voll Essen einzusammeln. „Ein Großteil von ihnen ist zwischen 25 und 35 Jahre alt. Allerdings haben wir auch Essensretter, die über 65 sind. Wirklich jeder, der Interesse hat, kann sich bei uns engagieren“, sagt Singer.
Fair verteilen
Was mit dem Essen passiert, entscheidet jeder Foodsaver selbst. „Wir teilen es mit Freunden oder stellen es Menschen bereit, die es brauchen können“, erklärt die 22-Jährige. „Ich habe eine eigene Whatsapp-Gruppe, in der ich Bescheid gebe, wenn wir eine neue Lieferung haben. Jeder, der etwas möchte, kann sich melden. Die Reaktionen sind sehr positiv. Es ist ein tolles Gefühl, wenn sich andere über die Lebensmittel freuen. Gleichzeitig wissen wir, dass wir etwas gegen die Verschwendung getan hat.“ Auch Julia Etzold hat gute Erfahrungen damit gemacht, Abnehmer für die geretteten Lebensmittel zu finden: „Ich komme vom Dorf. Dort stelle ich die Kisten mit Obst, Gemüse oder Backwaren in meine Garage und jeder, der vorbeikommt, kann sich etwas nehmen. Erst waren die Hemmschwellen groß, weil die Leute nicht glauben konnten, dass sie es einfach so mitnehmen dürfen, ohne etwas dafür bezahlen zu müssen. Aber inzwischen fragen sie mich schon, wann ich wieder etwas abhole. Auch älteren Menschen, die wenig Rente haben, hilft das sehr.“ Den Rest nimmt sie mit in den Kindergarten, in dem sie arbeitet, oder bringt ihn zu Großfamilien. „Einen Teil behalten wir auch für uns. Ich koche das Obst ein und mache zum Beispiel Marmelade daraus“, erklärt Etzold.
Elena Singer und ihr Team investieren viel Herzblut in ihre Foodsharing-Arbeit – und jede Menge Zeit. „Ich habe als Organisatorin den größten Aufwand. Rund zehn Stunden pro Woche plane ich oder sammle selbst Essenskörbe ein. Das ist nicht immer leicht neben dem Studium und der Arbeit.“ Auch Corona mache die Situation nicht leichter. „Wir geben den Betrieben ein 100-prozentiges Abholversprechen. Fallen Foodsaver krankheitsbedingt aus, wird es schwierig, alles zu koordinieren. Aber bisher haben wir es immer geschafft.“
18 Millionen Tonnen für die Tonne
1,3 Milliarden tonnen essbare Lebensmittel werden weltweit jährlich weggeworfen. Das ergab eine aktuelle Studie des „World Wide Fund For Nature“ (WWF). Auch Deutschland ist betroffen. Pro Jahr landen in der Bundesrepublik über 18 Millionen Tonnen Lebensmittel in der Tonne. Das entspricht rund einem Drittel des aktuellen Nahrungsmittelverbrauchs (etwa 54 Millionen Tonnen). Das bedeutet: Pro Sekunde landen rund 315 Kilo Nahrungsmittel im Müll – ein Großteil davon noch genießbar. Das entspricht pro Kopf und Jahr etwa 75 Kilo, die jeder von uns wegwirft, ergibt auch der Ernährungsreport des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Den größten Anteil machen demnach frisches Obst und Gemüse aus, gefolgt von Backwaren und Gekochtem. Nicht nur private Haushalte, sondern auch Restaurants und Supermärkte werfen viele Lebensmittel weg, die noch genießbar wären. Der Grund: Oftmals dürfen sie rechtlich nicht mehr verkauft werden, weil sie das Haltbarkeitsdatum überschritten haben. Ist das der Fall, dürfen die Nahrungsmittel auch nicht mehr verschenkt werden – sie landen in der Tonne.
Nachhaltig organisiert
Die Rettungsaktionen sind immer genauestens geplant. „Anders würde es nicht funktionieren“, sagt Elena Singer und lacht. Hat ein Betrieb oder ein Privathaushalt Essen übrig, das in der Tonne landen würde, erhält die 22-Jährige einen Anruf. Schon am Telefon werden die wichtigsten Fakten geklärt: Wie viele Autoladungen können abgeholt werden? Welche Lebensmittel sind es? „Dann stelle ich die Anfrage in unsere Foodsaver-Whatsapp-Gruppe. Im besten Fall sammelt derjenige die Nahrungsmittel ein, der am nächsten an der Abholstelle wohnt. Wir wollen CO2 vermeiden. Auch das ist uns wichtig.“ Ist der entsprechende Foodsaver gefunden, meldet er sich über die offizielle Foodsharing-Webseite an und registriert dort die bevorstehende Essensrettung.
„Anschließend fahren wir, bepackt mit nachhaltigen Kisten und Dosen, zur Abholstelle. Vor Ort gibt es bestimmte Verhaltensregeln: Wir stören den Betrieb nicht und nehmen nur das mit, was uns zur Verfügung gestellt wird“, erklärt Julia Etzold das Vorgehen, das sie selbst schon etliche Male erlebte. „Ich schaue mir die Lebensmittel genau an und packe alles ein, was ich noch gut verteilen kann. Zum Teil nehme ich ganze Kofferraumladungen voll Obst, Gemüse oder auch Kräuter und Haferprodukte mit. Es ist ein schönes Gefühl, weil ich weiß, dass viele Menschen dadurch glücklich gemacht werden.“ Ab dem Moment der Abholung übernehmen die Foodsaver die Haftung für die Lebensmittel. „Wir geben nur Essen weiter, das wir wirklich guten Gewissens verteilen können“, betont Singer. Eine Sache ist der Studentin besonders wichtig: „Wir stehen nicht in Konkurrenz zur Tafel. Sie hat immer Priorität, darauf legen wir Wert.“
Das Engagement kommt an. „Wir werden immer bekannter. Menschen bestärken uns in unserer Arbeit – und auch Betriebe sprechen uns inzwischen von selbst an, weil sie sich am Foodsharing beteiligen wollen“, freut sich die 22-Jährige. Doch ihr Ziel ist noch lange nicht erreicht: „Wir wollen noch mehr auf die unglaubliche Lebensmittelverschwendung aufmerksam machen. Man muss sich das mal vorstellen: Pro Jahr wirft jeder von uns rund 75 Kilo essbare Lebensmittel in den Müll. Weil wir falsch kalkulieren, keine Lust mehr auf bestimmte Nahrungsmittel haben oder sie im Kühlschrank zu lange vergessen. Jeder von uns kann daran etwas ändern.“ Sie will nicht nur Foodsharerin, sondern auch Ansprechpartnerin sein, Fragen klären und mehr öffentliches Aufsehen für dieses Thema schaffen. „Ich denke, wir sind auf einem guten Weg.“
Aktiv retten
Es ist kurz nach 20 Uhr. Einsatz für Elena Singer. Die junge Studentin steht mit zwei großen Tüten und Frischhalteboxen vor einem Imbiss an den Franzosenäckern in Amberg. „Wir warten immer, bis alle Kunden weg sind. Erst dann gehen wir rein. Wir wollen nichts mitnehmen, was andere noch kaufen würden.“ Zwei bis drei Mal pro Woche holen die Foodsaver übrig gebliebene Lebensmittel von dem Imbiss. Heute ist Elena nicht alleine. Die Ambergerin Klara hat ihren ersten Einsatz als Lebensmittelretterin. „Die ersten zwei Mal begleiten wir die neuen Foodsaver, damit sie ein Gefühl dafür bekommen, wie es funktioniert – und wie wir uns vor Ort verhalten“, erklärt Elena. Auch Klara hat eine große Tüte, Boxen und ihren Foodsaver-Ausweis dabei. „Das ist wichtig, denn die Betriebe sollen sicher sein können, dass wir der Foodsharing-Organisation angehören.“ „Ich freue mich, dass es losgeht. Es ist schön, dass ich endlich etwas gegen die Verschwendung beitragen kann“, sagt Klara. Der letzte Kunde verlässt den Imbiss. Im Inneren erwartet die jungen Frauen eine reichlich gefüllte Auslage: Pizza, Pide, frischer Salat. „Alles?“, fragt der Betreiber. „Gerne. Einfach in die Boxen“, antwortet Elena. An der Scheibe klebt gut sichtbar das Logo „Foodsharing – Wir machen mit“. Doch was motiviert den Inhaber, das Essen kostenlos abzugeben? „Ganz einfach: Es werden viel zu viele Lebensmittel weggeworfen. Menschen müssen aus Mülleimern essen und wir verschwenden das Essen. Das muss nicht sein. Wenn wir einen Beitrag leisten können, dann machen wir das gerne.“ Nach etwa fünf Minuten ist der Einsatz der Foodsaverinnen vorbei, ihre Taschen gefüllt, das Essen gerettet. „Es ist eine tolle Erfahrung“, sagt Klara. Schon in wenigen Tagen werden sich die zwei jungen Frauen wieder treffen. Bepackt mit Boxen und dem Ziel: Verschwendung vermeiden. „So lange, bis sich das Bewusstsein der Menschen geändert hat und unsere Arbeit überflüssig wird“, betont Elena Singer.
Foodsaverinnen geben Tipps
52 Prozent der Lebensmittelabfälle landen im Müll privater Haushalte. Eine Ressourcen- und Geldverschwendung, die sich durch einige Tipps leicht minimieren lassen würde, sind sich Elena Singer und Julia Etzold sicher:
- Erstelle einen Wochenplan, überlege, was du kochen willst, und geh mit der Liste gezielt einkaufen.
- Ein regelmäßiger Blick in den Kühlschrank lohnt sich: Oft vergessen wir, welche Lebensmittel wir noch zu Hause haben. Die Folge: Sie werden schlecht.
- Räume den Kühlschrank richtig ein, um Lebensmittel länger haltbar zu machen: Unten ist die Luft am kältesten, oben am wärmsten.
- Werde kreativ: Mixe übrig gebliebene Lebensmittel zu einem leckeren Gericht – zum Beispiel zu einer Gemüsepfanne.
- Nicht alle Lebensmittel sind schlecht, nur weil sie nicht mehr frisch sind. Etwa alte Semmel eignen sich perfekt, um daraus Semmelbrösel zu machen.
- Notiere dir, wie viel du für Lebensmittel bezahlst. Dadurch wird bewusst, wie viel Geld verloren geht, wenn du sie einfach wegwirfst.
Hier findest du alles, was du wissen musst
- Facebook: foodsharing.amberg
- Instagram: @foodsharing.amberg
- www.foodsharing.de
Foodsharing gibt es auch in Weiden: Instagram: @foodsharingweidenundumgebung E-Mail: weiden.opf[at]foodsharing[dot]network
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