Innerhalb weniger Wochen geschehen zwei Verbrechen, die sprachlos machen. Am 12. März wird im nordrhein-westfälischen Freudenberg die zwölfjährige Luise tot in der Nähe eines Radweges gefunden. Zwei Mädchen im Alter von 12 und 13 Jahren gestehen schon bald, sie erstochen zu haben. Da es strafunmündige Kinder sind, halten sich die Ermittler zum mutmaßlichen Motiv bedeckt und machen keine Angaben.
In der Ausgabe vom 18./19. März lautet auf Seite 8 unserer Zeitung die Schlagzeile: „Schutz der Kinder – die Öffentlichkeit wird im Fall Luise nicht alles erfahren.“ Oberstaatsanwalt Patrick Baron von Grotthuss wird in dem Artikel mit den Worten zitiert: „Wir können auch die rechtlichen Grenzen, die uns gesetzt sind, nicht überschreiten, nur weil die Bevölkerung meint, ein Anrecht zu haben, alle Hintergründe zu kennen.“ Argumentiert wird mit dem Persönlichkeitsschutz der Minderjährigen. Man werde „keine Aussagen zu Tatabläufen und Motivlagen machen“. In so einem speziellen Fall müsse man auch mal akzeptieren, dass es gewisse Informationen gebe, die nicht für die Öffentlichkeit seien.
Das Alter spielt eine Rolle
Am 4. April ist das oberfränkische Wunsiedel Schauplatz eines weiteren aufsehenerregenden Tötungsdeliktes. In einer Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung wird eine Zehnjährige leblos in einem Zimmer aufgefunden. In der Osterausgabe vermeldet Oberpfalz-Medien auf der ersten Zeitungsseite: "Polizei: Elfjähriger offenbar an Tod von Mädchen beteiligt." Polizei und Staatsanwaltschaft hielten sich auch hier mit Details zurück, sie verwiesen auf das Alter des strafunmündigen Buben. Es werde keine weiteren Informationen geben, sagte eine Sprecherin des Polizeipräsidiums Oberfranken.
Schweigen "nicht gerechtfertigt"
Einige Kritiker sprechen nun von einer Auskunftsverweigerung. Der Medienrechts-Anwalt Stefan Söder beispielsweise hat in einem Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) das Verhalten der Ermittlungsbehörden im Fall des getöteten Mädchens in Freudenberg als nicht gerechtfertigt bezeichnet. "Hier ist das Informationsinteresse der Gesellschaft besonders hoch", sagte er laut epd. Zusätzlich zu dem legitimen Bedürfnis, das erschütternde Geschehen zu begreifen, gebe es eine Diskussion über mögliche weitreichende Gesetzesänderungen wie die Herabsetzung der Strafmündigkeits-Grenze. "Diese kann nicht angemessen geführt werden, wenn über die Hintergründe der Tat völlige Unklarheit herrscht", so Söder zum Evangelischen Pressedienst.
Söder sagte dem epd, dass die Schutzinteressen der minderjährigen mutmaßlichen Täterinnen mit hohem Stellenwert zu berücksichtigen seien. Es bleibe aber stets eine Abwägung notwendig, bei der auch die Informationsinteressen der Öffentlichkeit einbezogen werden müssten. Selbstverständlich, so führte Söder weiter aus, sollte jede Information durch die Ermittlungsbehörden unterbleiben, die zu einer Identifizierung der Täterinnen beitragen könne, wie Namen, Aussehen, familiäre Umstände, Wohn- oder Schulorte. "Auskünfte wie etwa zu Motiven oder dem Verhalten nach der Tat befähigen jedoch für sich genommen niemanden zu einer derartigen Identifizierung", zitiert der epd Söder. Dass Personen, die die Identität der Täterinnen bereits kennen, weitere Informationen erhielten, sei in der Abwägung hinzunehmen. Außerdem könnten die Behörden diese Auskunft wiederum zurückhaltend formulieren und zum Beispiel besonders stigmatisierende Details allgemein umschreiben.
Gang vor Gericht möglich
Weiter heißt es in dem epd-Artikel: Eine vollständige Auskunftsverweigerung der Behörden müsse sich jedoch dem Vorwurf aussetzen, die Informationsinteressen der Allgemeinheit übermäßig zurückzusetzen. Im Zweifel könnten die Medien ihren Auskunftsanspruch auch gerichtlich durchsetzen. Generell unterlägen Ermittlungs- und andere Behörden den medienrechtlichen Auskunftsansprüchen, die sich aus den Landespressegesetzen und dem Medienstaatsvertrag ergäben.
In ihrem Standardwerk "Presserecht" stellen die Autoren Dr. Jörg Soehring und Dr. Verena Hoene fest: Für schwebende Verfahren setze die Auskunftsverweigerung voraus, dass ein Verfahren durch diese "vereitelt, erschwert, verzögert oder gefährdet werden könnte oder schutzwürdige private Belange verletzt werden könnten". Was den Schutz der Persönlichkeit anbelangt, heißt es in der Richtlinie 8.3 (Kinder und Jugendliche) des Pressekodex: "Insbesondere in der Berichterstattung über Straftaten und Unglücksfälle dürfen Kinder und Jugendliche bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres in der Regel nicht identifizierbar sein." Der Pressekodex legt die ethischen Richtlinien für die journalistische Arbeit fest, für Ermittlungsbehörden spielt er freilich keine Rolle.
Es besteht öffentliches Interesse
Ich bin zwar als Leseranwalt kein Jurist, möchte hier aber meine persönliche Sicht der Dinge in aller Kürze wiedergeben: Dass die Ermittlungsbehörden in Bezug auf die Geschehnisse in Freudenberg und Wunsiedel den Schutz der Kinder als Maßstab für ihr Handeln in den Vordergrund stellen, kann ich nachvollziehen. Dass sie momentan Informationen, die sie haben, noch nicht preisgeben, ebenfalls. Allerdings würde ich mir wünschen, dass nach dem Abschluss der Ermittlungen die Öffentlichkeit Genaueres über die Motive und die Tatgeschehen erfährt. Das lässt sich meines Erachtens mit dem großen öffentlichen Interesse und der Tatsache rechtfertigen, dass es sich um außergewöhnliche Taten handelt.
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