Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) will seinen Stellvertreter Hubert Aiwanger (Freie Wähler) trotz zahlreicher Vorwürfe in der Affäre um ein antisemitisches Flugblatt aus Schulzeiten aktuell nicht entlassen. Das erfuhr die Deutsche Presse-Agentur am Sonntag in München. Zuvor hatte das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) berichtet. Söder wollte sich noch am Vormittag offiziell bei einer Pressekonferenz äußern.
Aiwanger hatte zuletzt einen umfangreichen Fragenkatalog Söders zu den Vorwürfen schriftlich beantworten müssen. Danach traf Söder nun - wie angekündigt - seine Entscheidung. CSU und Freie Wähler haben bisher stets erklärt, ihre Koalition nach der Wahl fortsetzen zu wollen.
Gegen den Freie-Wähler-Chef waren seit einer Woche immer neue Vorwürfe laut geworden. Am Samstag vor einer Woche hatte er zunächst schriftlich zurückgewiesen, zu Schulzeiten ein antisemitisches Flugblatt geschrieben zu haben, über das die "Süddeutsche Zeitung" berichtet hatte. Gleichzeitig räumte er aber ein, es seien "ein oder wenige Exemplare" in seiner Schultasche gefunden worden. Kurz darauf erklärte Aiwangers älterer Bruder, das Pamphlet geschrieben zu haben.
Am Donnerstag entschuldigte sich Aiwanger erstmals öffentlich. In Bezug auf die Vorwürfe blieb er bei bisherigen Darstellungen - insbesondere, dass er das Flugblatt nicht verfasst habe und dass er sich nicht erinnern könne, als Schüler den Hitlergruß gezeigt zu haben. Auf X (ehemals Twitter) wies er zudem den Vorwurf, er habe Hitlers "Mein Kampf" in der Schultasche gehabt, als "Unsinn" zurück. Zu weiteren Vorwürfen äußerte er sich entweder nicht oder sagte, er könne diese aus seiner Erinnerung weder dementieren noch bestätigen.
Gleichzeitig ging der Freie-Wähler-Chef zum Gegenangriff über, beklagte eine politische Kampagne gegen ihn und seine Partei - was ihm sofort neue Vorwürfe etwa des Zentralrats der Juden einbrachte.
Dass Söder aktuell trotz alledem an Aiwanger festhält, dürfte insbesondere mit der unmittelbar bevorstehenden Landtagswahl am 8. Oktober zusammenhängen. Auch wenn CSU und Freie Wähler ihre Koalition fortsetzen wollen, hatte Söder zuletzt gesagt, Koalitionen hingen "nicht an einer einzigen Person". "Es geht mit oder ohne eine Person im Staatsamt ganz genauso." Die Freien Wähler stehen jedoch fest zu ihrem Vorsitzenden. Bei Wahlkampfauftritten wird Aiwanger ungeachtet der Affäre teils kräftig gefeiert.
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Aiwanger bleibt bayerischer Wirtschaftsminister, das hatte sich bereits am Samstag bei einem Interview Aiwangers abgezeichnet. Aber unsere Gesellschaft wird einen Preis dafür bezahlen müssen, so wie bereits andere Gesellschaften in westlichen Ländern für den Populismus einen hohen Preis bezahlt haben. Aiwanger gibt sich als volksnaher Anti-Establishment-Politiker und wird dafür in den Bierhallen beklatscht und bejubelt. Gehört man als Agraringenieur, Abgeordneter, Minister, stellv. Ministerpräsident und Parteivorsitzender etwa nicht zum „obersten politischen Establishment“?
Die Zuhörer berauschen sich an seinen Grenzüberschreitungen, unwillens oder unfähig seine Botschaften zu hinterfragen. Auch große Teile der Presse berichten staunend vom Volkstribun, statt darauf hinzuweisen, dass Aiwanger seit 6 Jahren in der Regierung sitzt und es eine „zwanghafte Veganisierung“ und „zwanghaftes Gendern“ weder in Deutschland, noch in Bayern gibt, -eine Erfindung für Bierzeltreden. Oftmals hetzt Aiwanger gegen gesetzliche Regelungen, die er im Kabinett selber mit beschlossen hat, wie jüngst sogar der Koalitionspartner CSU feststellte. Die Politiker in Berlin haben „den Arsch offen“, und deshalb sei „der Punkt erreicht, wo endlich die schweigende große Mehrheit dieses Landes sich die Demokratie wieder zurückholen muss“. „Spinner“ und „Chaoten“ waren noch die harmlosesten Schimpfwörter für Bundesminister und Abgeordnete der Ampelparteien. Aiwanger weiß auch, spätestens wenn er von den "grün versifften Insektenfressern" schwadronierte, „die noch nie im Leben eine Schaufel in der Hand hatten“, steht das Bierzelt Kopf. Aiwanger gibt als Wahlkampfziel unter anderem aus, Förderprogramme vereinfachen zu wollen. Dass die Minister Füracker und Aiwanger mit jeweils eigenen, aber artverwandten Fördergeldern – deren jeweilige Annahme sich mitunter sogar wechselseitig ausschließen– inzwischen auch noch gegeneinander wetteifern, macht den Zustand zusätzlich unhaltbar, wie der Bayerische Städtetag feststellte. Verbringt Minister Aiwanger zu viel Zeit in Bierzelten, statt im Ministerium?
Aiwanger macht auch nicht Halt in Sachen Düngeverordnung gegen das FW-geführte Bayer. Umweltministerium zu hetzen, sehr zum Ärger der dortigen Ministerialbeamten (...diese studierten Deppen... wollen euch Praktiker die Landwirtschaft erklären...). Die Verächtlichmachung der Regierenden und persönliche Herabwürdigung erinnert, wie das besagte Flugblatt, an dunkelste Zeiten. Angesichts der unaufhörlichen „Hubert, Hubert-Rufen“ kann es schon mal passieren, dass man sich hinreißen lässt und man sich im Jahrhundert vertut, dass die Grenzen zwischen Bierzelt (2023) und Bürgerbräukeller (1923) ein wenig verwischen, wie die Wirtschaftswoche schrieb.
Wenn in der Stellenbeschreibung eines Bayerischen Wirtschaftsministers das überwiegende abhalten von reißerischen Bierzeltreden stehen würde, wäre Aiwanger eine sehr gute Besetzung. Tatsächlich sollte sich ein Wirtschaftsminister aber vorrangig um die Belange der Wirtschaft kümmern. Bei mehreren Industrie- und Handelskammern stellte sich bereits vor geraumer Zeit Ernüchterung zur Themensetzung von Hubert Aiwanger ein, -“zu Wolf- und Gülle-lastig“.
Die Zahl der Straftaten gegen Kommunalpolitiker hat in Bayern im vergangenen Jahr erneut drastisch zugenommen. Das geht aus Antworten des Innenministeriums auf Landtags-Anfragen hervor. Onetz berichtete auch von einem Fall aus dem Landkreis Schwandorf, bei dem der Täter bereits einschlägig vorbestraft war und übelste Entgleisungen gegen einen Bundesminister zutage traten. Die Liste der von „Wutbürgern“ und Hassattacken betroffenen ließe sich um Polizisten, Feuerwehr, Rettungskräfte und Verwaltungsbeschäftigte beliebig erweitern. Das sind die Früchte des Zorns, der von Politikern wie Aiwanger mit Halbwahrheiten permanent geschürt und befeuert wird.
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