In meinem Leben bin ich unzähligen Menschen begegnet. Flüchtigen Gesprächspartnern, oberflächlichen Bekannten, die nach und nach zu einer vagen Erinnerung verschwommen sind. Personen, die zu meinen engsten Freunden wurden. Wie jeder von uns habe ich gute und schlechte Erfahrungen gemacht. Ich habe mein Vertrauen in die Falschen gelegt und bin von anderen positiv überrascht worden. Jede Begegnung hat mich geprägt. Mir geholfen, das Verhalten meines Gegenübers zu deuten und zu erkennen, ob er es gut oder schlecht mit mir meint. Ja, ich denke, dass ich eine gute Menschenkenntnis habe – mit einigen Ausnahmen.
Natürlich ist es nicht immer leicht, sein Gegenüber einzuschätzen. In meiner Vergangenheit habe ich viele Fehler gemacht. Lange habe ich an das Gute in jedem geglaubt. Ein nettes Wort, ein freundliches Lächeln, und ich war überzeugt: Das muss ein guter Mensch sein. Diese Einstellung hat sich geändert, als ich das erste Mal erlebte, dass eben nicht jedes Lächeln ehrlich gemeint ist. Meine damals beste Freundin – wir waren 13 oder 14 Jahre alt – hat sich als hinterhältig erwiesen. Lästereien, Lügen … und mein Glaube ans Gute ist Misstrauen und oberflächlichen Eindrücken gewichen. Auch das war die falsche Herangehensweise. Ich habe auf ein Bild vertraut, dass ich mir innerhalb weniger Sekunden gemacht habe.
Ich erinnere mich noch gut an die erste Begegnung mit einer besten Freundin von heute. Böser Blick, ein leises „Hallo“. Mein Urteil: Wir werden niemals Freunde. So kann man sich irren. Ich erinnere mich an etliche solcher Situationen und vorschnellen Bewertungen. Lange habe ich sie nicht hinterfragt, bis mein Papa zu mir sagte: „Menschen haben oft Gründe, die dazu führen, dass sie sich so verhalten, wie sie sich verhalten. Du musst hinter die Oberfläche schauen.“ Nach über zehn Jahren denke ich immer noch oft an dieses Gespräch. Es hat meinen Blick verändert. Ich habe gemerkt, dass mein damaliger Studienkollege, den ich für unfassbar arrogant hielt, nicht arrogant, sondern einfach schüchtern und deshalb distanziert war. Dass meine Bekannte nicht chaotisch und anstrengend war, sondern ihre Eltern schon im Teenager-Alter verloren hat und ihr Leben seitdem allein organisiert – eben auf ihre eigene Art und Weise. Was mir diese neue Sichtweise gebracht hat? Ich habe mein Misstrauen abgelegt und mich wieder auf mein Gegenüber eingelassen. Angefangen, meinem Bauchgefühl zu vertrauen. Das hat funktioniert – lange Zeit.
Bis es plötzlich wieder da war, dieses eine freundliche Lächeln – in einer schwierigen Lebensphase, in der ich es dringend brauchte. Ein Lächeln … und ich war mir sicher: Es ist ein guter Mensch. Trotz meiner Erfahrungen habe ich mich blenden lassen. Die Erkenntnis, wie selbstbezogen und unehrlich dieser Mensch ist, hat erstaunlich lange gedauert. Und mich überraschend hart getroffen. Als mir mein Irrtum klar wurde, bin ich in alte Muster verfallen: Ich habe an der Aufrichtigkeit der gesamten Menschheit gezweifelt, an meinem Urteilsvermögen. Ich habe alles und jeden hinterfragt. Wie absurd diese Gedanken waren, habe ich einige Tage später gemerkt, als mir klar geworden ist, wie viele enge Freunde ich in meinem Leben habe. Menschen, bei denen mich mein Gefühl nicht getäuscht hat. Vertraute, die mich jahrelang niemals enttäuscht haben. Die es mit mir genauso ehrlich und gut meinen, wie ich mit ihnen. Darauf kommt es an. Und darauf sollten wir uns konzentrieren. Schlechte Erfahrungen gehören wohl zum Leben, lassen sich nicht vermeiden, wenn wir neue Leute kennenlernen. Ob wir trotzdem offen bleiben sollten? Natürlich. Wer weiß, vielleicht begegnen wir einer besonderen Person. Jemandem, der es wert ist, dass wir hinter seine oberflächliche Fassade blicken. Meine Menschenkenntnis wird wohl auch mit 45 oder 55 nicht unfehlbar sein. Dafür aber sicher um etliche Erfahrungen reicher.
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