Kühl wirkt der 08/15-Bungalow im grellen Neonlicht, sehr modern und nüchtern. Er trifft damit mitten in die Schuhschachtel-Existenzen unserer Zeit. Das kreisende Haus gibt immer neue Einblicke, zerbricht, stapelt sich alptraumartig auf, fügt sich wieder zusammen und verdeutlicht so psychische Prozesse, die sich in Pauls Träumen abspielen. Er kann den Tod seiner Frau Marie nicht verkraften, glaubt, sie in der Tänzerin Marietta wiedergefunden zu haben, erliegt ihrer Erotik, verzweifelt an seinem Treuebruch und findet durch Mariettas kämpferische Natur den Weg in eine Zukunft ohne Marie. Neu ist, dass der Tod von Pauls Frau - im Libretto nicht benannt - durch Stones Bildwelten eindeutig als Krebsleiden gezeigt wird. In dutzendfacher Multiplikation taucht Marie ohne Haare in den Alpträumen und Erinnerungen leitmotivisch auf.
Simon Stones typisches Regiekonzept, über den voyeuristischen Blick in die Zimmer auch die Seelenlagen der Menschen offenzulegen, wird durch die Lichtstimmungen verstärkt, schrammt zuweilen aber auch scharf am Kitsch vorbei, wenn allzu plakativ die surrealen Traumwelten gezeigt werden. Doch Stones ausgefeilte, bewegungsintensive und erotische Personenregie, die schauspielerische und sängerische Qualität der Protagonisten und Kirill Petrenkos faszinierendes Dirigat entwickeln "Die tote Stadt" trotzdem zu einer mitreißend spannenden, sehr gut nachvollziehbaren Psycho- und Traumanalyse, die berührt, weil sie den eigenen Lebenserfahrungen nicht so fremd ist.
Marlis Petersen wandelt sich von der lebensfrohen, ziemlich alltäglichen Kleinkunsttänzerin zum glitzernden Energiezentrum. Petersen fasziniert nicht nur Paul, sondern auch das Publikum. Hervorragend interpretiert sie die unterschiedlichen Facetten dieser Marietta, eine verführerische Sirene.
Jonas Kaufmann zeigt in adäquater Spießigkeit als behäbiger Witwer mit Hosenträgern Pauls Seelenschmerz sehr authentisch und realistisch zwischen Sehnsucht und Selbstdisziplin, Hingabe und Selbstvorwürfen. Wenn auch im letzten Akt ein, zwei Ermüdungserscheinungen hörbar werden, ist die sängerische Qualität außerordentlich. In den Nebenrollen lassen Jennifer Johnston als Brigitta und Andrzej Filonczyk aufhorchen.
Nicht minder faszinierend ist das Dirigat von Kirill Petrenko, der diese komplexe Komposition in allen Nuancierungen aufleuchten lässt, von feinsten Harfenmelodien bis zu wuchtigen Schlagwerken, durchzogen von fanfarischen Blechbläsern, immer mit dem richtigen Gefühl für eine perfekte Dynamik zwischen Sänger und Orchester. Alles zusammen ergibt einen großartigen Opernabend. www.staatsoper.de
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