München. Es ist der erste Tag des vorweihnachtlichen Schul-Lockdowns, an dem sich allerdings Zehntausende Schüler pünktlich zum eigentlichen Schulbeginn online zum Distanzunterricht anmelden müssen. So hatte es Kultusminister Michael Piazolo (Freie Wähler) am Montag verfügt. Die Lernplattform Mebis ist von dem absehbaren Ansturm überfordert - wieder einmal. Viele Schüler erreichen das System erst am späten Vormittag. Das Kultusministerium schreibt dazu in schönstem Amtsdeutsch: "Aufgrund der stark gestiegenen Nutzung von Mebis zeigen sich derzeit Probleme in Form von erhöhten Wartezeiten oder vorübergehender Nichterreichbarkeit des Systems." Na prima.
Rückblende. Am Dienstag Nachmittag kommt Grünen-Fraktionschefin Katharina Schulze in der Debatte zu Markus Söders siebter Corona-Regierungserklärung auf die Schulen zu sprechen und damit in Fahrt. Am besten man zitiert ihre entscheidende Passage am Stück. "Wir befinden uns im neunten Monat der Pandemie. Was macht dieser Kultusminister jeden Tag, außer die Schulfamilie zu verwirren, widersprüchliche Signale zu senden und die Infrastruktur nicht bereitzustellen, die es für ein sicheres Lernen und Lehren in einer Pandemie braucht? Sie müssen endlich dafür sorgen, dass die staatliche Lernplattform Mebis zuverlässig funktioniert und nicht in den entscheidenden Momenten offline ist."
Über und Aufgaben machen
Dass sich ihre Befürchtung schon eine Nacht später bestätigen wird, ahnt Schulze in diesem Moment höchstens. Sie kennt aber ein ministerielles Schreiben aus dem Hause Piazolo vom Montag, in dem die Schulfamilie mit dem Hinweis in Verwirrung gebracht wird, dass es - mit Ausnahme der Abschlussklassen - ab Mittwoch keine Pflicht zum Distanzunterricht gebe. Heißt das also ein noch weiter vorgezogener Ferienbeginn? Eltern bombardieren nun Lehrkräfte und Schulleitungen mit Fragen, doch die sind vor allem eines: Ratlos. Am Dienstag kommt dann eine Klarstellung Piazolos, wie das mit dem neuen Begriff des "Distanzlernens" gemeint sei. Nämlich üben, Aufgaben bearbeiten und - wenn möglich und gewünscht - digitaler Kontakt zur Lehrkraft.
Piazolo gerät derweil immer stärker in die Defensive. Er bittet um Verständnis, dass es mit der Planbarkeit in einer ständig wechselnden Pandemielage einfach schwierig sei. Ihn holen aber auch fast täglich frühere Versprechen ein. Mitte Oktober bekundete er, die Schulen seien auf alle Eventualitäten vorbereitet. Man könne, falls es Corona erforderlich mache, jederzeit in den Wechsel- oder Distanzunterricht übergehen. Dafür sei auch Mebis aufgerüstet und seine Server-Kapazität verzehnfacht worden. Und jetzt? "Leider zeigt sich seit letzter Woche unter erhöhter Last: Alle umgesetzten Maßnahmen zeigen bislang nicht die Wirkung, die ich mir wünsche", gibt er sich zum neuerlichen Mebis-Ausfall zerknirscht.
"Nichts gelernt"
Der Opposition im Landtag ist der Geduldsfaden längst gerissen, der Ton wird spürbar schärfer. "Exakt neun Monate nach dem ersten Schul-Lockdown zeigt das einst so stolze bayerische Kultusministerium, dass es nichts gelernt hat", zieht Matthias Fischbach (FDP) Bilanz. Piazolo müsse daraus "die Konsequenzen ziehen und seinen Platz freimachen". Eine unverhohlene Rücktrittsforderung. Noch ein wenig Schonfrist geben dem Minister die Grünen. Piazolo habe den "letztmaligen Auftrag, Bayerns Schulen bis zum 11. Januar digital fit zu machen", stellt der Grüne Max Deisenhofer ein Ultimatum. Wenn er sich das nicht zutraue, "sollte er andere ranlassen".
Verunsicherung, Verwirrung
Auch in der Schulfamilie drücken die Aussagen ein schwer gestörtes Vertrauensverhältnis zu Piazolo aus. Dessen Ministerium verbreite "ohne Not Verunsicherung", klagt Jürgen Böhm, der Chef des Realschullehrerverbandes. Von "Verwirrung" spricht der Vorsitzende des bayerischen Elternverbandes, Martin Löwe. Simone Fleischmann vom Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband fordert "klare Ansagen von der Politik", wie sie sich das Funktionieren von Schule in der Pandemie vorstelle. Grund-, Haupt- und Förderschullehrer sind ohnehin schon länger nicht gut auf Piazolo zu sprechen, seit er ihnen noch vor Corona per Dienstanordnung ultimativ Mehrarbeit zur Bewältigung des Lehrermangels aufgebrummt hat.
Tiefer Frust über Piazolo spricht aus der Stellungnahme von Walter Baier, dem Chef der bayerischen Gymnasialdirektoren. "Viele der Versprechungen der letzten Monate sind vor Ort längst noch nicht eingelöst. So sucht man an so mancher Schule verbesserte technische Voraussetzungen wie schnelles WLAN ebenso vergebens wie CO -Ampeln oder eine nennenswerte Anzahl von Leihgeräten für Schüler und Lehrer", zählt er auf. Am schlimmsten aber seien "Ad-hoc-Entscheidungen, die ohne vorherige Einbindung von uns Praktikern getroffen, dafür aber medienwirksam kommuniziert wurden". Was die Schulen bräuchten, sei Verlässlichkeit und vorausschauende Planung. In Noten übersetzt wäre das wohl eine Fünfminus für Piazolo - Vorrücken gefährdet.
Offiziell gibt es Rückendeckung
Noch allerdings genießt Piazolo zumindest in öffentlichen Bekundungen den vollen Rückhalt der Menschen, die seinen Job garantieren. Diesen mache er sehr gut, erklärt Ministerpräsident Markus Söder (CSU) fast schon im Tagesrhythmus. In seiner Regierungserklärung am Dienstag, kurz vor Schulzes Frage nach dem Tagwerk des Ministers bedankt sich Söder ausdrücklich für Piazolos Arbeit in dieser schweren Zeit. Der Fraktionschef der Freien Wähler, Florian Streibl, nennt Piazolo einen "absolut starken Kultusminister". Offiziell Rückendeckung kommt auch von CSU-Fraktionschef Thomas Kreuzer, der erklärt, ein System mit 1,6 Millionen Schülern und 150000 Lehrkräften sei eben nicht so leicht zu steuern wie ein Handwerksbetrieb mit 30 Mitarbeitern. Immerhin betont aber auch Kreuzer: "Es muss besser werden!"
Klarer Auftrag vom Chef
Spricht man mit Insidern der Kultusbürokratie, hört man auch Mitleid mit Piazolo. Das Ministerium mit seinen vielen Abteilungen und widerstrebenden Interessen sowie dem Einfluss konkurrierender Lehrerverbände sei eigentlich "unregierbar", heißt es. "Das Kultusministerium ist ein großer Tanker, und da stelle ich mir schon die Frage, ob das in dieser Form noch das richtige Gefährt für eine Ozeanüberquerung ist", urteilte zum Beispiel im März die Bildungspolitikerin der Freien Wähler, Eva Gottstein. Die Erkenntnis ist nicht neu. Legendär sind die regelmäßigen Gardinenpredigten, die die kürzlich verstorbene CSU-Bildungspolitikerin Anneliese Fischer aus Bayreuth schon vor mehr als 30 Jahren den Ministerialbeamten im Schulausschuss des Landtags hielt. Bis heute erwecken da manche den Eindruck, es sei ihnen egal, wer unter ihnen Minister ist.
Viel Zeit, die Kurve zu kriegen, hat Piazolo nicht mehr. Denn auch Markus Söder kann seine Ungeduld nur noch schwer verbergen. In seiner Regierungserklärung am Dienstag sendet er eine "klare Botschaft" an die Schulfamilie, deren Hauptadressat Piazolo sein dürfte: "Bis zum Januar muss alles genau geklärt sein, damit es im Wechsel- und Distanzunterricht keine Missverständnisse und keine Probleme gibt. Bis 10. Januar muss das alles stehen." Söders Staatskanzleiminister Florian Herrmann (CSU) zieht tags darauf die Daumenschrauben weiter an: "Die erneuten Störungen bei Mebis sind unverständlich und ärgerlich. Wir haben den klaren Auftrag an das Kultusministerium erteilt, die Probleme umgehend zu beheben".
Piazolo scheint verstanden zu haben. Den neuerlichen Mebis-Ausfall nennt er am Mittwoch "nicht akzeptabel". Nach den Weihnachtsferien werde es für alle Schulen, die Mebis nutzten, "eine Lösung geben", verspricht er. Die Schüler werden es merken, am 11. Januar um 8 Uhr.
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