Rund 30.000 Reisende eilen täglich durch den Regensburger Bahnhof. In der brachliegenden Unterführung zwischen den Gleisen Eins und Neun hat der Verein Donumenta das "Art Lab Gleis 1-9" - einen experimentellen Kunstraum - geschaffen. Konventionelle Kunst darf der Besucher nicht erwarten. In dem 60 Meter langen Tunnel stellt bis zum 28. Juli der Düsseldorfer Marcus Kaiser eine Installation mit künstlerischen Langzeitstudien aus.
Während die Züge über den Köpfen des Künstlers und der Ausstellungsbesucher hinwegratten und Gleisdurchsagen durch den dunklen, kühlen Korridor hallen, entwickelt Kaiser seine Arbeiten weiter. Er zeichnet, macht Ton- und Videoaufnahmen, spielt Cello und interagiert mit den Besuchern.
"Möchten Sie einen Schwarztee mit mir trinken", fragt er eine junge Frau. Lisa Wieczorek ist eigentlich auf der Durchreise von Nürnberg nach Straubing und auf der Suche nach dem richtigen Gleis in die Ausstellung geraten. In der Teeküche, die zentral platziert und von Palmen umgeben ist, entstehen wunderbare Begegnungen. "Die Kombination aus Pflanzen und dem Tunnel finde ich faszinierend. Es ist ein geschützter Raum, in dem trotzdem Leben ist", fasst die 34-Jährige, die an der Akademie der Bildenden Künste Nürnberg studiert hat, begeistert das Gesehene zusammen.
Nachhaltige Kunstwerke
Letztlich wird auch ihr Besuch in der Unterführung in künftigen Ausstellungen Kaisers weiterleben: in der Skulptur "Ich/Verwurstelung". Seit 30 Jahren trinkt Kaiser mit den Besuchern Tee. Die benutzten Teebeutel sammelt, trocknet und "verwurstelt" der Künstler in der Installation, die an das überdimensionale Modell eines Insektenstockes erinnert. Es entsteht ein nachhaltiges Kunstwerk, das "zu einem Teil vom Zufall beeinflusst ist", sagt Kaiser. "Wenn ich die Teebeutel aufhänge, weiß ich nie, wie es genau aussieht. Das ist bei vielem im Leben so, dass man etwas weiß und es trotzdem nicht weiß", erklärt der Düsseldorfer Maler, Bildhauer, Musiker und Komponist seine Intention.
Dieser Ansatz ist auch in anderen Exponaten zu erkennen. 2012 fing Kaiser an, den "Rand der Tage" zu visualisieren. Fast täglich malt er morgens auf der einen Seite eines Papierbogens feine farbige Striche über den Rand. Am Abend bearbeitet er die Rückseite auf die gleiche Weise. Mit den Jahren ist der Stapel, an dem die vergangen Tage ihre Spuren hinterlassen haben, gewachsen. In Regensburg stellt der 52-Jährige diese Anhäufelung zum ersten Mal aus - und erweitert sie.
Welt als Lebensraum
So entwickelt sich die Lebensrauminstallation stetig weiter. Kaiser gehe es darum, "Kunst zu erleben, Kunst erlebbar zu machen und Kunst zu leben." Sein Wunsch wäre es, mit seiner Arbeit zu bewirken, "dass wir nicht nur diesen Raum, sondern unsere Welt viel mehr als Lebensraum mit vielen Qualitäten begreifen."
Es hat etwas von Entschleunigung, die knapp 500 bemalten Kontoauszüge, die Kaiser "ich-trojanisch" nennt, zu betrachten. Hier muss der Besucher Zeit mitbringen. "Die kann man nicht alle auf einmal anschauen", sagt Günter Busch, der mit seiner Frau ganz gezielt den Weg in den Tunnel genommen hat. Seine Frau ergänzt: "Ich bin begeistert, was hier in Regensburg in der Kunstszene gezeigt wird. Es ist einfach nur wunderschön, dass dieser Raum genutzt wird, der eigentlich brach liegt." Auch zukünftig soll die Bahnhofsunterführung als Ausstellungsort dienen, sagt Hans Simon-Pelanda, zweiter Vorsitzender von Donumenta: "Wir hoffen, dass wir so den Regensburgern in ihrem Lebensraum Kunst nahe bringen können, die sie in der Stadt nicht sehen und die im ersten Moment vielleicht ungewohnt ist."
Das „Art Lab Gleis 1–9“ in der Unterführung im Hauptbahnhof ist von Dienstag bis Sonntag von 14 bis 19 Uhr, donnerstags von 14 bis 21 Uhr geöffnet. Die Ausstellung von Marcus Kaiser ist bis 28. Juli zu sehen. Bereits am 9. August eröffnet die Ausstellung „Sing mir ein Bild“ von Karpat Berkan mit einer Licht- und Soundinstallation. Der Zugang erfolgt über Gleis eins, der Eintritt ist frei.
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