Die heute 18-Jährige sitzt in einem Wernberger Café. Zunächst wirkt sie schüchtern, doch der erste Eindruck täuscht. Lisa-Marie Schöpf steht zu sich und ihrer Autismus-Diagnose. So war sie vor vier Jahren erleichtert, als ihr die Störung diagnostiziert wurde: „Es war ja sehr offensichtlich, dass ich andersartig bin. Ich hatte aber oft keine Rechtfertigung dafür. Mit der Diagnose kam dann mehr Selbstakzeptanz, mein Umfeld hat mich besser aufgenommen und konnte sensibler auf gewisse Wesenszüge reagieren.“ Auch ihre Mutter sagt heute, dass ihr durch den Befund „endlich deutlich wurde, warum Lisa sich anders verhält, wenig Sozialkontakte pflegt, und dass sie nicht einfach nur schüchtern ist“. Für die ganze Familie war es eine Erleichterung und der Start für eine Mission. Eine Mission zu mehr Inklusion. Mehr Interaktion. Mehr Austausch.
„Small Talk und belanglose Gespräche fallen mir schwer und ich muss auf emotionaler Ebene anders auf mein Gegenüber eingehen“, erklärt Lisa-Marie. Bereits in ihrer jungen Kindheit entwickelte sie daher das Schubladen-Modell. Mit diesem Modell konnte sie die (para-)verbale und non-verbale Sprache ihres Gegenübers besser einordnen und jedes Mal erneut eine passende Reaktion dazu suchen. Lisa-Marie erklärt es auf ihrem Instagram-Kanal „autismus_und_meinemission“ wie folgt: „Mit Hilfe des Schubladenmodells können Autisten, wenn sie von einer (fremden) Person mit einer banalen Frage oder Aussage angesprochen werden, diese als Grundbaustein des Small Talks überprüfen. Erkennt der Betroffene etwa, dass es sich dabei um eine rhetorische Frage handelt und darauf keine ernsthafte Antwort erwartet wird, kann er diese mit dem erlernten Grundgerüst des belanglosen Gesprächs in Verbindung bringen.“ Nach ihrer offiziellen Diagnose formulierte sie diese Alltagsbewältigungsstrategie aus, die nun auch anderen Personen im Autismus-Spektrum zur Verfügung steht und bei der täglichen Kommunikation hilft. „Ich habe schon viel positives Feedback bekommen. Andere Autisten können gut damit arbeiten und ihr Leben so besser gestalten und auch mal in ein Café mit einer Freundin gehen, ohne Angst zu bekommen, dass die soziale Interaktion stoppt“, erzählt die Wernbergerin.
System Schule als Problem
Besonders wenn sie Normen entsprechen muss, hindert Lisa-Marie ihr Autismus. Das ist vor allem im schulischen Umfeld der Fall: Aufgaben, die für Gleichaltrige kein Problem sind, können für sie zur Herausforderung werden – so wie etwa das Deuten von Karikaturen. „Ich erkenne nicht, was die Karikatur aussagen soll. Ich kann sie einfach nicht lesen. Aber ich werde in das System Schule hineingedrängt und muss diese Aufgabe lösen.“ Damit gehen Vorurteile einher, dass sie etwa in der Schule bevorzugt werde, dass sie unglücklich sei, weil sie wenig Mimik zeige, und dass sie nicht mit Menschen umgehen könne. Aber dazu sagt Lisa-Marie ganz klar: „Ich bin glücklich, kann mit Menschen umgehen, und ich werde nicht bevorzugt – Nachteile werden lediglich ausgeglichen."
Weitere Vorurteile kann sie direkt abwehren: „Autismus ist ein Spektrum. Jede autistische Person hat also andere Symptome. Es gibt beispielsweise hyposensitive Autisten, die nehmen Reize vermindert auf.“ Also das genaue Gegenteil zu Lisa-Marie. Somit ist jede Person im Autismus-Spektrum individuell und nicht miteinander vergleichbar. Der Autismus bringt der 18-Jährigen auch Vorteile. Ihre Spezialinteressen sind Psychologie, Theologie und Philosophie. „Die drei Bereiche mag ich alle sehr gerne. Da kann ich auch wahnsinnig lange sehr konzentriert und breitgefächert arbeiten.“ Zudem hat Lisa-Marie ein fotografisches Gedächtnis. Hierdurch kann sie bewusst sehr viele Seiten lesen und diese in kürzester Zeit wiedergeben. „Das sehe ich aber nicht nur als Vorteil: In der Schule nehme ich sehr viele Informationen auf, das kann sehr belastend sein. Oft träume ich dann auch von den gelesenen Seiten. Das fotografische Gedächtnis gehört zu mir, ist ein Teil von mir – aber weder positiv noch negativ“, sagt Lisa-Marie.
In der Schule pflegt sie ein paar wenige Kontakte, hat Anschluss und wird akzeptiert. Aber gleichermaßen gibt es Mitschüler, die nur wenig mitfühlend sind. „Manche sagen, wenn ich wirklich wolle, könne ich mich anders verhalten. Andere denken, ich sei schwach und angreifbar und sie könnten sich über mich lustig machen“, erzählt die Gymnasiastin, die mittlerweile die Oberstufe besucht. Mit deutlichen Worten hat sie aber gezeigt, dass das niemand mit ihr machen kann. Auch wenn in ihrer Schule das Wort „Autist“ zur Beleidigung anderer Mitschüler verwendet wird, greift Lisa-Marie ein und erklärt, dass das Ableismus sei und unterbunden werden solle.
Overload, Meltdown und Shutdown
Lisa-Marie ist nicht nur hypersensitiv und reagiert somit sehr intensiv auf äußere Reize wie Lärm, Licht und Berührung. Sie filtert zudem Informationen anders. Dadurch kommt es schnell zu einer Reizüberflutung. „Meine Sinne verzerren sich dann, ich kann Sprache nicht mehr differenzieren und das Muster der Schrift wirkt wie eine optische Täuschung“, erklärt die 18-Jährige. „Es gibt dann zwei Zustände: Entweder es kommt zum sogenannten Overload – ich bin äußerlich nervös, hüpfe herum oder stimme mit meinen Händen. Oder ich gehe in den Shutdown. Das ist eine Art Schutzmechanismus. Mein Körper nimmt sich aus der Umgebung raus, ich nehme nichts mehr wahr und bin komplett abgeschottet. Ich regeneriere mich dann meist von ganz alleine wieder. Das ist eigentlich ganz angenehm“, sagt Lisa-Marie und lächelt. „Nur in der Schule ist das manchmal kritisch. Wenn ich im Shutdown auf mich alleine gestellt bin, kann ich nicht sprechen und somit nicht um Hilfe bitten.“
Im Overload benötigt die junge Autistin manchmal Hilfe, damit es nicht zum Meltdown kommt. Gemeinsam mit einem Psychotherapeuten hat sie festgestellt, dass ein einfaches Abklopfen ihres Körpers sie aus diesem Zustand wieder herausholt. Im Meltdown erleben Betroffene Panik und verlieren die Kontrolle über die Situation. In all diesen Momenten können Außenstehende helfen, die Reize für die Autisten zu minimieren, die Umgebung anzupassen und gemeinsam einen ruhigen Ort aufzusuchen, bis sich die betroffene Person wieder reguliert hat.
Musik und Sport als Ausgleich
Um mit den vielen täglichen Reizen umzugehen und in anderen Momenten Energie einzusparen, setzt Lisa-Marie auf Routinen. „Wie ich meinen Tagesablauf gestalte, wie ich mich kleide oder meine Haare trage, meine Ferien verbringe oder welche Reihenfolge ich bei Aufgaben anwende, ist alles routiniert: Gewohnheiten nehmen mir Entscheidungen ab und sind dabei ein ganz wichtiger Stützpunkt für mich.“
Auch die Musik ist für die Schülerin ein wichtiger Teil des Lebens. Seit ihrem dritten Lebensjahr spielt die 18-Jährige Instrumente. Am liebsten Klavier und Hurdy Gurdy (Drehleier). „Musik hilft mir, in mich hineinzuhören. Durch den Autismus ist es schwierig, meine Emotionen auszudrücken – ich habe viele Gefühle aber oft keinen Zugang dazu. Durch die Musik kann ich in mich hineinhören und Reize abbauen, damit es nicht zur Überladung kommt."
Gleichzeitig ist auch Sport ein wichtiger Ausgleich für Lisa-Marie. Ein Mix aus Kraftsport, Laufen und Yoga stärkt sie in allen Bereichen. „Ich empfinde keinen muskulären Schmerz, kann quasi meine Muskeln nicht spüren. Kraftsport hat mir dabei geholfen, meine Muskeln gezielter einzusetzen. Und mit Laufen kann ich mich und meine Gefühle regulieren und wieder runterkommen.“ Durch Yoga konnte Lisa-Marie eine Strategie entwickeln, um sich in der Öffentlichkeit schneller zu beruhigen. Die erlernte Atmung kann sie als eine Art Meditation in Momenten anwenden, die sie mit Reizen überfluten.
Früher wollte Lisa-Marie Kriminalpsychologin werden. „Das war damals mein Hauptinteressensgebiet, weil es sehr logisch ist und zeigt, wie kognitive Informationen funktionieren. Es hat mich auch in meiner persönlichen Entwicklung weitergebracht. Gleichzeitig war es auch ein Bereich ohne soziale Kontakte. Ich dachte, dass ist das, was ich brauche.“ Schnell merkte die Autistin, dass das nur Klischees sind, die sie von der Gesellschaft übernommen hatte und dass sie gerne mit Menschen zusammenarbeiten möchte. „Ich gebe seit einiger Zeit Nachhilfestunden und das ist genau das, was mir gefällt: Anderen Personen Informationen übermitteln.“ Dabei hat die 18-Jährige Schulpsychologie oder Schulphilosophie im Auge. So hatte sie bereits die Möglichkeit, neben der Schule ein Frühstudium in Philosophie zu besuchen. „Das war eine sehr große Erleichterung für mich, weil ich meine Interessen entfalten und das erste Mal mit Personen im gleichen Interessensgebiet zusammenarbeiten konnte.
Die Autismus-Spektrum-Störung (ASS) gilt als komplexe und vielseitige Entwicklungsstörung und ist erblich und genetisch vorbestimmt. Betroffene Personen werden als neurodivergent bezeichnet. Personen ohne Störung gelten hingegen als neurotypisch: Die neurologische Entwicklung ist auf dem Stand, der meist als normal betrachtet wird. Gleichzeitig gilt ASS nicht als Krankheit oder Erkrankung, da diese Störung nicht geheilt werden kann. Von den verschiedenen Begriffen für die Ausprägungen – Frühkindlicher Autismus, Asperger-Syndrom und Atypischer Autismus – hat man sich mittlerweile nahezu vollständig verabschiedet. Die Grenzen sind schwimmend und eine Einordnung schwierig. Auch Art und Schweregrad der Symptome sind bei jeder Person im Autismus-Spektrum unterschiedlich ausgeprägt.
Inklusion aller Behinderungen
Für neurotypische Personen ist es einfach, sich in ein bestehendes System zu integrieren. Personen im Autismus-Spektrum haben hier laut Lisa-Marie aber Probleme: „Inklusion würde bedeuten, dass jede Person sofort am öffentlichen Leben teilhaben kann. Und dass auch wir nicht Neurotypischen bei den Konzepten zur Inklusion mitreden können – ansonsten wäre es nur Integration. Bei Autisten stellt sich dann auch speziell die Frage, wie Barrieregleichheit funktionieren kann, wenn alle Autisten doch unterschiedlich sind. Deshalb muss man diesen Begriff weiterdenken: Wie kann eine individuelle Systembildausprägung bei Menschen mit Autismus bewerkstelligt werden?"
Um diese Frage zu klären, hat die Schülerin ein Konzept entwickelt und damit 2022 einen Ideenwettbewerb der Oberpfalz gewonnen. Dazu hat sie mehrere Leitfäden für das Gesundheits- und Schulsystem entwickelt, die aus zwei Teilen bestehen: Datenbögen und Datenerhebung, um die Grobsymptomatik festzulegen. So können Betroffene etwa beim Arzt angeben, ob sie reizüberempfindlich sind oder Reize vermindert aufnehmen. Oder auch, ob ihre Motorik eingeschränkt ist. „Auf der Basis dieser Auswertungen wird dann mit Umgangstabellen weitergearbeitet. Pädagogen und medizinischem Fachpersonal wird daraufhin vorgelegt, wie sie weiter vorgehen können.“ Lisa-Marie hält hierzu auch Vorträge, zum Beispiel im Autkom (Autismus Kompetenzzentrum) in München, und hat zudem Praxispartner. „Wir sind zwar noch am Anfang, aber es läuft“, erzählt sie zuversichtlich.
Aktiv setzt sich Lisa-Marie seit ihrer Diagnose für Inklusion ein. „Seitdem weiß ich, was es bedeutet, eine unsichtbare Behinderung zu haben, und deshalb möchte ich das für Neurotypische sichtbar machen.“ Dabei möchte sie ihren Autismus nicht in den Mittelpunkt rücken: „Auch Personen ohne Behinderung sollen sich dafür einsetzen. Nur, wenn wir in direktem Kontakt stehen, schaffen wir es, eine inklusive Gemeinschaft zu schaffen und Ideale und Klischees zu beseitigen.“ Die Schülerin versucht sich und ihrer Mission in allen Bereichen des öffentlichen Lebens Sichtweite zu verschaffen. So besucht sie etwa 24-Stunden-Diskussionen zum Thema Inklusion oder wie zuletzt die Diskussion zur Stadtbahn in Regensburg. Als Privatperson hat es die Schülerin aber schwer, ihre Projekte und Konzepte an die richtigen Partner zu bringen. „Deshalb steht jetzt die Gründung eines Vereins an und die Anwerbung von Mitgliedern“, erzählt Lisa-Marie selbstbewusst.
Lisa-Marie ist beeindruckend. Die vielen Menschen und lauten Geräusche im Wernberger Café setzen ihr nicht zu. Zumindest nicht sichtbar. Wie es in ihrem Innern aussieht, weiß nur sie selbst. Aber eines steht fest: Die junge Autistin führt ihr Leben, wie es ihr gefällt und integriert sich bestmöglich in die Welt der Neurotypischen. So sollte auch Lisa-Marie durch mehr Inklusion eingeschlossen und unsichtbare Barrieren beseitigt werden.
Begriffe rund um die Autismus-Spektrum-Störung
- ASS ist die Abkürzung für Autismus-Spektrum-Störung. Sie umfasst alle Bilder und Ausprägungen, die Autismus annehmen kann.
- Overload bezeichnet eine exogene Reizüberflutung. Die Menge intensiver Reize überfordern die Person mit ASS, woraufhin die Reize entladen werden müssen.
- Shutdown kommt einem „Abschalten“ gleich, dass auf einen Overload folgen kann. Personen im Autismus-Spektrum nehmen sich dann bewusst aus ihrer Umgebung raus.
- Meltdown kann ebenso auf einen Overload folgen und wie ein Wutanfall aussehen. ASS-Personen laden ihre Überreizung nach außen ab.
- Stimming gilt als selbststimulierendes Verhalten und äußert sich durch wiederholende Geräusche oder Bewegungen.
- Neurotypisch sind Personen, die als normal angesehen werden und keinerlei neurologische Auffälligkeiten haben.
- Neurodivergent ist eine andere Bezeichnung für Personen im Autismus-Spektrum. Sie werden als neurologisch nicht normal angesehen.
- Ableismus bezeichnet die Diskriminierung behinderter Personen mit sichtbaren und nicht sichtbaren Einschränkungen.
- Hypersensitiv sind Personen, die Reize wie Lärm, Licht oder Berührungen sehr intensiv und verstärkt wahrnehmen.
- Hyposensitiv werden Personen bezeichnet, die vermindert auf äußere Reize und Berührungen reagieren.
- Inklusion ist ein Menschenrecht und besagt, dass kein Mensch mit Behinderung ausgeschlossen, benachteiligt oder gar diskriminiert werden darf.

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