"Wie eine Zielscheibe auf dem Kopf": Amberger Jude nimmt die Kippa wieder ab

Amberg
08.11.2022 - 18:34 Uhr
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Tim Kurockin hatte sich dazu entschieden, in der Öffentlichkeit Kippa zu tragen. Aber inzwischen hat der Amberger sie aus Angst wieder abgenommen. Die antisemitischen Vorfälle in Bayern nehmen zu – die Oberpfalz setzt einen anderen Trend.

Im vergangenen Sommer schlenderte Tim Kurockin noch mit Davidstern-Kettchen und Kippa durch die Amberger Altstadt. Die Kette trägt Tim immer noch um den Hals. Seine schwarze flache, kreisförmige Kopfbedeckung aus Stoff ist aber inzwischen von seinem Kopf verschwunden. Die Kippa gilt als eines der Erkennungszeichen des Judentums. "Sie ist gefühlt wie eine Zielscheibe auf dem Kopf", sagt er heute. Klar, das sei vielleicht etwas übertrieben formuliert, schiebt er nach. Doch er habe sich persönlich einfach nicht mehr so wohl gefühlt. "Und die Kette fällt jetzt natürlich nicht so auf wie eine Kopfbedeckung."

Anfang Februar 2021 entschloss sich Tim, die Kippa auch in der Öffentlichkeit zu tragen. Er wollte ein Zeichen setzen, Vorurteile abbauen, Mut beweisen – mit damals noch 16 Jahren. Die Botschaft, die er vermitteln wollte, war: Ich als junger Jude bin ein normales Mitglied dieser Gesellschaft und auf keinen Fall etwas Besonderes.

Bereits im Herbst 2021 nahm er die Kippa wieder ab. Er betont zwar, dass er auf Ambergs Straßen bisher keine Anfeindungen erlebt habe. Doch das schlechte Bauchgefühl sei größer geworden. Zu groß für den heute 18-Jährigen. Und Beispiele aus seinem persönlichen Umfeld zeigen, dass diese Formulierung mit der "gefühlten Zielscheibe" eben vielleicht doch nicht so übertrieben daherkommt. "Ich habe Freunde, bei denen etwas vorgefallen ist", sagt Tim. In Berlin wurden sie auf der Straße nach einem Gottesdienst angefeindet. Und er habe mitbekommen, dass auch Bekannten in München ein paar Dinge passiert seien.

Deutlich mehr Vorfälle in Bayern

Laut der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern (Rias) wurden 2021 insgesamt 447 antisemitische Vorfälle bekannt. Das entspricht einer Zunahme von rund 80 Prozent gegenüber 245 Fällen aus dem Jahr 2020, wobei dies nicht bedeutet, dass "der Antisemitismus" in Bayern entsprechend wuchs. Die Vorfälle, welche die Recherche- und Informationsstelle aufnimmt, können immer nur einen Teil der Wirklichkeit abbilden. Rias Bayern wurde erst 2019 gegründet, mit steigender Bekanntheit oder auch mehr Personal können auch mehr antisemitische Vorfälle dokumentiert werden. Es ist also von einem großen Dunkelfeld antisemitischer Vorfälle auszugehen. Rias ist beim Verein für Aufklärung und Demokatrie (VAD) angesiedelt und wird vom Bayerischen Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales gefördert.

Mehr als die Hälfte der dokumentierten antisemitischen Vorfälle in Bayern haben einen Bezug zum Holocaust. Das ergab eine Analyse der Recherche- und Informationsstelle, die Ende September vorgestellt wurde. Beispiele sind Angriffe auf Gedenkorte ebenso wie Menschen, die bei Protesten gegen die Corona-Politik einen gelben Stern tragen und das Leid der Jüdinnen und Juden im Holocaust verharmlosen. "Angriffe auf die Erinnerung sind wesentliche Voraussetzung für das Leugnen wie auch das Ausleben von Antisemitismus heute", erklärt Rias-Leiterin Annette Seidel-Arpaci. "Juden werden als diejenigen wahrgenommen, die allein durch ihre Existenz sowohl eine unbeschwerte deutsche Identität als auch die liebgewonnene Selbstversicherung als vorbildlich aufarbeitende Nation stören."

Die Experten sprechen hier von Post-Schoah-Antisemitismus. Rund 570 solcher Vorfälle registrierte Rias Bayern seit dem Start im Frühjahr 2019, darunter drei Angriffe, 16 Bedrohungen, 35 gezielte Sachbeschädigungen und 183 Versammlungen. Bei knapp der Hälfte habe man den politischen Hintergrund nicht eindeutig erkennen können. 120 Fälle wurden dem verschwörungsideologischen Milieu zugerechnet, 107 Vorkommnisse dem rechtsextremen Spektrum und 40 Fälle antiisraelischem Aktivismus.

Hass in den sozialen Medien

Man sollte diese Entwicklungen ernst nehmen, findet Tim Kurockin. "Vor allem über soziale Medien habe ich viel Negatives erfahren", erklärt der Amberger. In der Coronazeit sei es noch schlimmer geworden. Der Hass, der dort gesät wird, sollte nicht unterschätzt werden. Zu viele Menschen würden einfach daran glauben. "In den sozialen Medien ist Antisemitismus immer präsent." Doch letztendlich gebe es dann leider auch Menschen, die den Hass, der in den Kommentarspalten auf Facebook, Instagram & Co. beginnt, in der Realität ausleben – auch in Bayern.

Wie auch die Jahre zuvor wurden 2021 in Oberbayern mit Abstand die meisten antisemitischen Vorfälle dokumentiert: Im Vergleich zu 2020 stieg die Zahl von 127 auf 283, wobei hier insbesondere die 116 Online-Nachrichten gegen eine jüdische Person ins Gewicht fielen. An zweiter Stelle folgt Mittelfranken. Der größte Zuwachs war, nach Oberbayern, in Oberfranken und Unterfranken zu verzeichnen. In der Oberpfalz sanken dagegen die Zahlen erfreulicherweise wieder. Wurde im vergangenen Jahr noch ein Anstieg antisemitischer Vorfälle von 4 auf 15 festgestellt, vermeldete Rias nun einen Rückgang der Vorfälle. Im Jahr 2021 waren es 12.

Doch wie geht es nun mit Tims Plan weiter, Vorurteile abzubauen? "Ich setze mich trotzdem voll ein, wenn Leute mit gefährlichem Halbwissen um sich werfen", sagt er. Er ist weiter ein Teil von "Meet a jew", einem Begegnungsprojekt des Zentralrats der Juden in Deutschland. "Ich werde mein Ding durchziehen, ich werde weiter den Dialog suchen". Vor den Juden, die in der Öffentlichkeit immer noch Kippa tragen, habe er großen Respekt. Er ordnet seine Entscheidung inzwischen ganz pragmatisch ein: "Ich habe die Mitte gesucht zwischen der Gefahr und dem Selbstbewusstsein mit meinem Jüdischsein."

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