Diesen Farben ist keine Kamera gewachsen: So satt sind die Rottöne, so extrem die Kontraste zwischen Stempel und Blütenblättern. Pink mischt sich mit Orange, ein makelloses Feuerwerk über einem abwehrbereiten Stamm voller Stacheln. Was an diesem Tag vor dem Gewächshaus von Sonja Scheitinger steht, gehört zum Prächtigsten, was die Blütenwelt zu bieten hat. Jetzt, im Mai und Juni, ist die Zeit, wo ihre Kakteen um die Favoritenrolle wetteifern. Hochsaison für die Züchterin, die in dieser Phase grundsätzlich Urlaub nimmt, um nichts zu verpassen.
"Mein Chef weiß das schon und hat Verständnis", erzählt die 56-Jährige, die während der Blütezeit von frühmorgens bis spätabends zwischen ihren Kakteen unterwegs ist. Mit einem feinen Pinsel sammelt sie die Pollen aus der riesigen Blüte einer Trichocereus-Hybride. Die Ausbeute wird dann auf den Stempel eines anderen Exemplars übertragen, das vielversprechende Eigenschaften mitbringt. Das alles dokumentiert sie genau in einer Datenbank, denn in Züchterkreisen ist ein Stammbaum ebenso unerlässlich wie bei Rassetieren. "Sonjas Hybridenwelt", so ihr Logo auf Facebook, ist inzwischen international bekannt. In wenigen Tagen reist ein Interessent aus Australien an, eigens um ihre Züchtung live zu sehen und die Expertin mit dem intensiven Hobby zu treffen.
Eigentlich arbeitet Sonja Scheitinger nämlich bei BMW in Wackersdorf. Ihr Job in der Materialsteuerung hat sie 2006 für ein Projekt nach Turin geführt. Dort, im italienischen Piemont, hat ihr Faible für Kakteen seinen Ursprung. Allein oder mit ihrem Mann war sie damals häufig auf Märkten unterwegs. "Da habe ich dann jeden Samstag Kakteen auf die Dachterrasse geschleppt", erzählt sie, "mittendrin haben die zu blühen begonnen, und auch mein Mann war da begeistert". Nach einem Jahr in Italien stand im November der Umzug nach Deutschland an - mit nicht nur einer Wagenladung voller Kakteen. Schnell war klar, dass jetzt ein Gewächshaus fällig ist - das sich dann auch prompt im Frühjahr schnell füllte. "Ich dachte, ich hätte jetzt ausgesorgt, aber da habe ich die Rechnung ohne die Sucht gemacht", gesteht Scheitinger.
Bezaubernder als Rasen
Ein Jahr später wurde ein zweites Gewächshaus aufgebaut, und als das Paar 2014 nach Dürnsricht zog, war auch ein Domizil für die Kakteen Bedingung. Auf einer Fläche von vier mal sechs Metern gedeihen nun die stacheligen Gewächse mit den bezaubernden Blüten frostsicher dicht an dicht. "Rasen ist überbewertet", sagt die stolze Besitzerin schmunzelnd mit Blick auf die angrenzende Grünfläche. "Jede Kakteenblüte gibt es nur einmal auf der Welt in dieser Form." Gerüscht, gemasert oder strukturiert wie eine Feder: Was aus einer Kreuzung entsteht, lässt sich nie genau vorhersagen, falls man sich nicht einfach mit Ablegern zufrieden gibt.
Ganz hinten im Gewächshaus überragt "The Flying Dragon" (deutsch: der fliegende Drache) die Szenerie, ein Import, der nach den aktuellen Regelungen gar nicht mehr möglich wäre. Inzwischen benötigen die Exoten für eine Reise über europäische Grenzen teure Herkunftsnachweise, sogenannte Cites-Bescheinigungen. Der "fliegende Drache" toppt seine Konkurrenten alle mit einer Blüte von fast 30 Zentimetern Durchmesser. Als Mutter- oder Vaterpflanze ist er damit wertvoll. Doch was die Schönheit betrifft, wechseln die Vorlieben der Züchter. "Manche legen beispielsweise Wert darauf, dass die Staubgefäße oder der Stempel nicht gelb, sondern pink sind", berichtet die Expertin. Sie selbst steht auf große, mehrfarbige Blüten, die im Internet bei den Fans gut ankommen.
Gnadenloses Aussortieren
Was die Kriterien nicht erfüllt, wird gnadenlos aussortiert. Sonja Scheitinger deutet auf ein Exemplar mit Blütenblättern, deren Farbe von Weiß bis zu einem kräftigen Rosa changiert: "Diese Blüte wird sich nie ganz öffnen", bedauert sie den Makel, der in diesem Fall das Ende für die Zucht bedeutet. Aber auch eine allzu große, schwere Blüte, die durchhängt, kann dazu führen, dass eine Hybride keine Chance mehr auf eine große Karriere beim Züchter hat. Dann kriegt sie auch keinen Namen wie "Sonjas Sternenfeuer", "The magic Moment", "Golden Eye" oder "Flying Saucer". Die sind mehr als eine Nummer und mit Steckbrief beim Züchterverband registriert. "Flying Saucer" ist übrigens die älteste Hybride in Scheitingers Sammlung, mit zweifarbigen Blüten in Gelb und Rosa, Durchmesser 23 Zentimeter, ein Direktimport aus den USA.
Doch bis ein Samen keimt und empfindliche Kakteen-Babys groß genug für den eigenen Topf sind, das dauert und ist laut Scheitinger "eine heikle Sache, an der viele scheitern". Denn gegen Pilze und andere Schädlinge helfen auch die Stacheln nicht. Bis zur Blüte sind es etwa vier bis fünf Jahre, "und dahinter stecken auch viele Misserfolge", weiß die Expertin, die von ihren Stachelkindern im Lauf von 15 Jahren so manchen Piks einstecken musste. Die Frau mit dem grünen Daumen nimmt diese Schattenseite mit Humor und einer dicken Hornhaut: "Einen Schönheitspreis gewinne ich mit meinen Fingern nicht."
"Sonjas Hybridenwelt"
- Gattung: Sonja Scheitinger baut zu 95 Prozent auf Trichocereus-Hybriden, die eine eher längliche, kräftige Form haben, außerdem züchtet sie die eher kugeligen Echinopsis-Hybriden sowie die langen und dünnen Gewächse mit eher kleinen, aber vielen Blüten (Hildewintera).
- Vermehrung: über Ableger oder Samen; zum Aussäen nutzt Scheitinger die sogenannte Fleischermethode im Gefrierbeutel mit Substrat und abgekochtem Wasser.
- Pflege: Die Dürnsrichter Züchterin mischt ihre Erden selbst aus je einem Drittel Anzuchterde, Seramis und Lechuza, sie gießt einmal pro Woche und benötigt für die große Zahl der Kakteen 800 Liter Wasser, dazu alle zwei Wochen Dünger. Damit die Kakteen blühen, müssen sie im Winter eine Kältephase durchmachen, dürfen aber keinen Frost abbekommen. Größter Fehler: zu viel Wasser, das Fäulnis begünstigt.
- Kennzeichen: Jeder Kaktus in Sonja Scheitingers Zucht bekommt ein Etikett. Das vermerkt akribisch Züchter, Aufzüchter, Vater- und Mutterpflanze, Jahrgang, Kapsel und Klonnummer.
- Handel: Die Convention on International Trade in Endangered Species of Wild Fauna and Flora (kurz CITES, deutsch Übereinkommen über den internationalen Handel mit gefährdeten Arten freilebender Tiere und Pflanzen) ist eine internationale Konvention, die einen nachhaltigen, internationalen Handel mit den in ihren Anhängen gelisteten Tieren und Pflanzen gewährleisten soll. Sie betrifft auch Kakteen.

Kommentare
Um Kommentare verfassen zu können, müssen Sie sich anmelden.
Bitte beachten Sie unsere Nutzungsregeln.