Neue Wege (in Deutschland bisher wohl einmalig) beschreitet die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, wie zukünftig mit dem Vermächtnis der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen umgegangen werden kann. Am Dienstag wurde die immersive Rauminstallation „Wir haben nicht geglaubt, dass wir noch Menschen sind“ im ehemaligen Boilerraum der Lagerwäscherei eröffnet, bei der der Betrachter in neue Bild- und Klangwelten tief eintauchen kann.
Überrascht vom großen Besucherinteresse zeigte sich der Leiter der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, Prof. Dr. Jörg Skriebeleit, bei der Begrüßung der Gäste im voll besetzten Veranstaltungssaal des Bildungszentrums. Er stellte die Frage, was passiere, wenn die überlebenden Betroffen immer weniger würden, wenn sie nicht mehr erzählen könnten, was sie in Flossenbürg erlitten hatten? Wie könne man deren Vermächtnis mittragen, wie damit klug, vernünftig und humanistisch umgehen? Mit der Installation habe das Team ein Experiment, einen Versuch in diese Richtung gewagt. Die Konzeption habe über zwei Jahre in Anspruch genommen und sei gemeinsam mit dem Studio SPACE4 aus Stuttgart entwickelt worden.
Zugang für jüngere Menschen
Bei der Eröffnung unbedingt dabei sein wollte und musste der 99-jährige Überlebende des KZ Flossenbürg, Dr. Leon Weintraub, der extra aus Schweden angereist war. Er hat nicht nur Flossenbürg, sondern auch Ausschwitz/Birkenau überlebt. Seine Eindrücke nach Vorabbesichtigung der Installation schilderte er in einem Podiumsgespräch, an dem auch KZ-Gedenkstätten-Projektleiter Julius Scharnetzky teilnahm und die Grundkonzeption der Installation erklärte. „Was machen wir mit den Zeugnissen, dass sie auch von jüngeren Menschen angenommen werden“? In einer pluralistischen Gesellschaft sei der Versuch unternommen worden, einen Beitrag zur Diskussion zu leisten, „wie geben wir den Stimmen einen Raum und wie werden wir den Menschen gerecht“. Moderiert wurde das Gespräch vom ehemaligen kommissarischen Kulturdirektor des Bayerischen Rundfunks, Andreas Bönte.
„Ich war bestürzt, als ich sie gesehen habe. Die Anonymität, dass kein bestimmter Bericht von konkreten Personen erzählt wird, wirkt wie Stimmen aus dem Jenseits. Die Tragik, der Schmerz und das Leiden werden dem Zuschauer tief unter die Haut gehen“, zeigte Weintraub sich sicher. Kaum ein Ereignis in der Weltgeschichte sei so gründlich und vielseitig in Wort und Bild beschrieben worden wie das 12 Jahre dauernde 1000-jährige Reich. „Trotzdem gibt es Menschen, die das verkennen und gar diese Gedanken wieder aufgreifen“, bedauerte er und nannte in diesem Zusammenhang die AfD.
Von der Entmenschlichung
Auf die Frage, ob er sich noch als Mensch gefühlt habe im KZ, erzählte Weintraub von seiner „Entmenschlichung“ bei der Einlieferung ins KZ Ausschwitz/Birkenau, der vollkommenen Enthaarung und Desinfektion. Eingepfercht in Viehwagons seien sie transportiert worden. „Bedrückend war die Stille darin, kein Wort der Empörung, der Ungerechtigkeit fiel“, erinnerte er sich. Mensch sei er wieder geworden nach seiner Flucht, auf der er nur mehr 35 Kilogramm gewogen habe und als er durch einen glücklichen Zufall, sein Medizinstudium in Tübingen beginnen konnte. Den jungen Menschen gibt er mit auf dem Weg, dass die heutige medizinische Forschung den DNA-Beweis geliefert habe, dass es keine Menschenrassen gibt außer dem des Homosapiens.
Stimmen, Klänge, Bilder
Anschließend besichtigten die Besucher die Rauminstallation im ehemaligen Boilerraum der Lagerwäscherei. Darin begegneten sie den Stimmen von Überlebenden mit ihren Erzählungen über das Lager, Hunger, Gewalt und Terror sowie Sterben und Tod. Die Installation basiert auf 44 Interviews, in denen die ehemaligen Häftlinge von ihren individuellen Erlebnissen und kollektiven Erfahrungen berichten. „Wie alt bist du? 15 Jahre. Genug gelebt. Er beginnt mich zu schlagen“, ist als übersetzter Untertitel zu lesen. Begleitet werden die Stimmen der Überlebenden von Animationen und Klängen, die zusammen mit dem Animationszeichner Jan Koester sowie der Tondesignerin Irma Heinig entwickelt wurden. Die geschaffenen Bildwelten und Töne decken behutsam die verschiedenen Erzählschichten auf, um zum Kern der Berichte vorzudringen: Den gewaltsamen und als schmerzhaft empfundenen Verlust der eigenen Identität und Würde. Ein Experiment, das überaus gelungen ist und dem Betrachter sicher unter die Haut gehen wird.
Neue Rauminstallation in der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg
- Die immersive Rauminstallation „Wir haben nicht geglaubt, dass wir noch Menschen sind“ befindet sich im Keller, im ehemaligen Boilerraum der Lagerwäscherei.
- Konzipiert wurde sie gemeinsam mit dem Studio SPACE4 aus Stuttgart. Bildregie und Animation stammen von Jan Koester, die Tongestaltung von Irma Heinig.
- Die Installation ist ab sofort täglich zu den regulären Öffnungszeiten der Dauerausstellung „Konzentrationslager Flossenbürg 1938-1945“ geöffnet (Öffnungszeiten März bis November täglich 09.00 - 17.00 Uhr, Dezember bis Februar täglich 09.00 - 16.00 Uhr).
- Der Eintritt ist frei.
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