Kirchenthumbach
19.04.2020 - 13:04 Uhr

„Die Amerikaner kommen“

Am Montag, 20. April, werden es 75 Jahre, dass Konrad Böhm Kirchenthumbach gerettet hat. Nach den Warnschüssen amerikanischer Panzer hatte er auf dem Turm der Pfarrkirche ein weißes Tuch gehisst, worauf das Granatfeuer eingestellt wurde.

Im „Danihansnhaus“ der Piehl-Oma mussten fast zwei Wochen lang vier Erwachsene und vier Kinder leben. Eine Kammer, ein Zimmer und die „gute Stube“ mussten reichen, die drei Buben freuten sich, dass sie es sich auf dem Dachboden gemütlich machen durften. Bild: gpa
Im „Danihansnhaus“ der Piehl-Oma mussten fast zwei Wochen lang vier Erwachsene und vier Kinder leben. Eine Kammer, ein Zimmer und die „gute Stube“ mussten reichen, die drei Buben freuten sich, dass sie es sich auf dem Dachboden gemütlich machen durften.

Dieses Artilleriefeuer hätte uns Kindern damals fast das Leben gekostet. Bruder Hans, die Kinder von Tante Käthe, ihre Wohnung war in Hannover bei einem Bombenangriff zerstört worden, unser Nachbarsbub Ludwig und ich waren im Garten hinter dem Haus am Spielen, als es etwa hundert Meter von uns weg, im Hof der Brauerei Dobmann, gekracht hat. Fasziniert schauten wir zu, wie Trümmer, wie Kohlen, durch die Luft sausten. Als die Tante, vom Knall angelockt, einen Schrei ausstieß, lösten wir uns, rannten ins Haus. Diese „Kohlen“ waren Granatsplitter. Circa 20 große Splitter fand unser Vater, als er 1948 aus der französischen Kriegsgefangenschaft heimkam, in der Hauswand. Nur wenige Meter entfernt hatten wir damals gespielt.

Wir Buben waren mit unserer Paulus-Oma allein im Haus und die Mama zu einem der vielen Trauergottesdienste für Gefallene in der Pfarrkirche, als uns ohrenbetäubender Lärm erschreckte und wir uns weinend an die Oma klammerten. Es waren Tiefflieger, die den Ort überflogen. Später erzählte die Mama, dass es Pfarrer Josef Bollmann zu verdanken war, dass bei der Trauermesse unter den Frauen keine Panik entstanden ist. „Keine geht mir da raus, bis es wieder ruhig ist“, schrie er und dirigierte alle an die Wände des Gotteshauses, „weil ihr da sicherer seid“. Der Tieffliegerangriff hatte gepanzerten Fahrzeugen gegolten, die auf der Holzmühlstraße in Richtung Kirchenthumbach unterwegs waren. Opfer hat es nicht gegeben, die Fahrzeugbesatzungen konnten sich im nahem Wald in Sicherheit bringen. Die Wracks der Fahrzeuge waren noch lange am Straßenrand zu sehen.

In den letzten Kriegstagen verunsicherten viele Gerüchte die Bevölkerung. Die Angst vor der SS war nicht mehr so groß wie vor den Amerikanern. Auch Max Gilch schürte die Angst. Er wohnte in einem Haus neben der Schreinerei Pöllath, war wegen seiner Körperbehinderung vom Kriegsdienst befreit, im Truppenübungsplatz Grafenwöhr beschäftigt und erzählte von Giftgas auf dem Platz. Als ich hörte, wie er der Mama erzählte, „wenn die Amerikaner das Lager bombardieren, müssen wir alle sterben“, sah ich im ganzen Haus nach, ob überall die Fenster zum Schutz vor Gas zu waren.

Nie vergessen hab ich ein Gerücht über den kurz bevorstehenden Einmarsch der Amerikaner. Weil von Grausamkeiten der Soldaten erzählt wurde, versuchten viele, im Wald abzuwarten, was passieren wird. Es war noch finster, als die Mama, Tante Käthe, die Omas mit uns vier Kindern und einem Handwagen voll Kleidung loszogen. Am Ortsende trafen wir auf aus Richtung Bahnhof kommende Frauen, Kinder, alte Leute. Schweigend zogen wir zusammen über den „Schönsteiner Berg“ in Richtung Fronlohe, am Waldrand in Richtung Forstkapelle lagerten wir. Angstvoll hörten wir, in unsere Decken eingewickelt, Motorengeräusche in der Ferne, dumpfes Grollen, sahen im Morgengrauen das Aufblitzen von Artilleriefeuer. „Das kommt aus der Richtung von Creußen“, sagte ein älterer Herr. Unsere Omas beteten den Rosenkranz, wir Kinder warteten gespannt auf die Amerikaner. Weil nichts passiert ist, trat man am Morgen den Heimweg an.

Einen Tag später war es dann so weit. Die Mama und die Oma standen in ihrem Laden, um Flüchtlingen aus dem Osten, die mit Planwägen in den Ort gekommen waren, Lebensmittel zu verkaufen, als plötzlich ein Nachbar rief: „Die Amerikaner kommen.“ Schnell schloss die Mama den Laden ab, ging mit der Oma in den Keller, wir Buben liefen stattdessen in das Obergeschoss, um dort trotz Angst Ausschau zu halten. Dann sahen wir diese fremden Soldaten über die Wiese neben dem Friedhof kommen. Sie liefen einige Schritte, legten sich hin, rannten wieder weiter. Schnell ging es dann in den Keller, wo die Mama, beide Omas, die Tante mit ihren Kindern und Schneidermeister Vogl mit der Frau, Tochter Babette, eine Freundin der Mama und ihrem Ehemann Blasius Reisner auf die Amerikaner warteten. Plötzlich krachte es oben, die Kellertüre wurde aufgerissen, jemand hat etwas gerufen. Als niemand antwortete, fiel noch ein Schuss, daraufhin ging die Mama nach oben. Minuten der Angst vergingen, bis sie zurückkam, uns nach oben holte. Dort stand ich dem ersten Amerikaner, einem Farbigen gegenüber, der mich mit seinen schneeweißen Zähnen anlachte. Als er meine Angst sah, zog er aus einer Tasche ein Päckchen raus und hielt es mir hin. Als ich zögerte, nahm er einen Streifen raus, steckte ihn in den Mund, begann, ihn zu kauen. Als er mir wieder einen Streifen anbot, nahm ich den ersten Kaugummi meines Lebens.

Auch der damals zwölfjährige Johann Ludwig Krapf erinnert sich an den Einmarsch der Amerikaner. Er, Schwester Klothilde, seine Mutter Theresia und Alois Lotter, seit 1936 ihr Ehemann, der erste Mann, Postagent Johann Krapf war früh verstorben, wohnten beim Schreiner von der Grün (Schotzn), wo der Sohn einen Knall gehört hatte und dann aus dem Hof des Metzgers Lindner (Pistl) Rauch aufsteigen sah. Alle rannten aus Angst auf die Straße, wo sie von Pfarrer Josef Bollmann in den gegenüberliegenden Pfarrhof geholt wurden, wo sie im Keller Unterschlupf fanden. Als die Amerikaner kamen, waren Lotter und er wenig später im Gästezimmer des Pfarrhofs, Lotter saß in einem Sessel und las, ich sah am Fenster zu, wie die Amis deutsche Gefangene zusammentrieben. Plötzlich stürzte ein Amerikaner, das Gewehr im Anschlag, ins Zimmer, sah den lesenden Lotter und fragte ihn: "Du Pastor? Als der verdutze Lotter nickte, hat er ganz leise die Türe zugemacht, als er gegangen ist.“

Am nächsten Tag kamen Amerikaner, und sie teilten meiner Mama mit, dass wir das Haus räumen müssen. Schnell haben wir Lebensmittel. Bettzeug und Decken auf den Handwagen geladen und sind zum „Danihanshaus“ der Piehl-Oma gefahren. Die zwei Omas, die Mama, die Tante und die Nichte mussten sich mit zwei Zimmern und der „gute Stube“ begnügen, uns drei Buben wurde der Dachboden zugewiesen. Auch der Nachbar, Schneidermeister Vogl musste sein Haus räumen. Ihm, der Frau, Tochter Babett und ihrem Blasius diente die Scheune als Quartier. Als wir nach fast zwei Wochen in unser Haus durften, bot sich ein Bild der Verwüstung. Getroffen hat es vor allem der Gemischtwarenladen der Paulus-Oma. Den Tränen nahe stellte sie fest, dass die Soldaten Zucker und Salz, in Truhen gelagert, vermischt und dadurch unbrauchbar gemacht hatten. In dieser Zeit der Lebensmittelbewirtschaftung war das eine Katastrophe für Oma.

In den ersten Wochen nach dem Einmarsch der Amerikaner herrschten chaotische Zustände an der „Heindl“-Kreuzung, lange Fahrzeugstaus. Erinnern kann ich mich an deutsche Soldaten in offenen US-Trucks, die wegen des Staus auf unserer Straße zum Stehen kamen. Als einer der Deutschen uns Buben nach Wasser fragte, lief mein Bruder schnell ins Haus, brachte eine Kanne Wasser, die Mama brachte einen Einer voll Wasser. Eine Nachbarin, die zugesehen hatte, kam mit einem Wecken Brot, schnitt ihn und verteilte die Stücke. Unsere Weber-Nachbarin war beim Erdäpfldämpfen fürs Saufutter, als ich sie gerufen habe. Zwei Eimer voll Erdäpfl und einen Laib Brot hat sie an die Soldaten dann verteilt. „Hoffentlich lebt mei Ludwig nu", sagte sie beim Anblick der Gefangenen. Der Sohn wurde nach Russland eingezogen, der alte Bauer betrieb die Landwirtschaft mit polnischen und russischen Kriegsgefangenen. Dass mir die Weber-Oma für kleine Arbeiten auf dem Hof, wie etwa Erdäpfabpflocken, ein Butterbrot geschenkt hat und ich gerne den Knechten beim Pferdestriegeln zugesehen habe, hat dem Bauer nicht gefallen. „Halt die net auf, die san zum Arbeitn da und net zum Ratschen, schleich die“, paffte er mich einmal an, als ich den Knechten eine Tüte Pfefferminzkugeln, ein Geschenk der Oma, geben wollte. Zum Trotz kam ich wieder, als der Bauer weg war. „Babuschka gut, Bauer böse“, kommentierte das einer der Knechte, der etwas Deutsch sprechen konnte und grinste dabei. Wie später bekannt wurde, haben die Amerikaner den Bauer auf der Anhöhe bei Altzirkendorf mit einem Spaten sein Grab schaufeln lassen. Zigaretten rauchend schauten sie zu. Als die Grube fertig war, stiegen die Amerikaner in ihren Jeep und fuhren weg, den Bauer ließen sie einfach stehen. In der Nacht kam er heim, wo die Bäuerin Todesängste ausgestanden hatte, wie sie meiner Mama erzählt hat. Vermutlich war es die Rache der ehemaligen Gefangenen für die schlechte Behandlung.

Der fesche Jüngling ist Johann Ludwig Krapf, bekannt als Hans Krapf. Knapp zwölf Jahre alt, erlebte er den Einmarsch der Amerikaner im Gästezimmer des Pfarrhofs zusammen mit seinem Stiefvater Alois Lotter. Bild: gpa
Der fesche Jüngling ist Johann Ludwig Krapf, bekannt als Hans Krapf. Knapp zwölf Jahre alt, erlebte er den Einmarsch der Amerikaner im Gästezimmer des Pfarrhofs zusammen mit seinem Stiefvater Alois Lotter.
Einen Schutzengel hatten von links Hanna Piehl, Hans Paulus, Hans-Georg Piehl und Georg Paulus, die im Hof gespielt haben, als nur wenige Meter entfernt etwa 20 Splitter amerikanischer Artilleriegeschoss in die Hauswand eingedrungen sind. Bild: gpa
Einen Schutzengel hatten von links Hanna Piehl, Hans Paulus, Hans-Georg Piehl und Georg Paulus, die im Hof gespielt haben, als nur wenige Meter entfernt etwa 20 Splitter amerikanischer Artilleriegeschoss in die Hauswand eingedrungen sind.
Pfarrer Josef Bollmann, der als Sanitäter den Ersten Weltkrieg an der Westfront erlebt hat, verhinderte eine Panik unter Frauen, die bei einem Trauergottesdienst durch das Dröhnen von Tieffliegern erschreckt wurden und nach Hause laufen wollten. Bild: gpa
Pfarrer Josef Bollmann, der als Sanitäter den Ersten Weltkrieg an der Westfront erlebt hat, verhinderte eine Panik unter Frauen, die bei einem Trauergottesdienst durch das Dröhnen von Tieffliegern erschreckt wurden und nach Hause laufen wollten.
 
Kommentare

Um Kommentare verfassen zu können, müssen Sie sich anmelden.

Bitte beachten Sie unsere Nutzungsregeln.

Klicken Sie hier für mehr Artikel zum Thema:
Zum Fortsetzen bitte

Sie sind bereits eingeloggt.

Um diesen Artikel lesen zu können, benötigen Sie ein OnetzPlus- oder E-Paper-Abo.