ONETZ: Am Wochenende hat die afghanische Wahlkommission die Bekanntgabe der Ergebnisse der Wahl vom 28. September verschoben. Was bedeutet das für die Demokratie in Afghanistan?
Reinhard Erös: Die Chefin der Wahlkommission, Frau Hawa Alam Nuristani, eine erfolgreiche Journalistin, hat vor drei Tagen entschieden, das Ergebnis der Präsidentenwahlen erst in einigen Wochen bekanntgeben zu können. Als Grund führte sie an, dass die digitale Fingerabdruck-Übermittlung aus den entlegenen Wahllokalen länger dauere als man zunächst angenommen hat. An der auch nach 18 Jahren kaum funktionierenden Demokratie ändert leider auch diese Wahl nichts. Die Menschen haben andere Sorgen als im westlichen Sinn perfekte demokratische Strukturen; ganz im Sinn von Berthold Brecht (frei übersetzt) "Erst kommt das Essen, dann kommt die Politik".
ONETZ: Die Zahl der zivilen Todesopfer in Afghanistan ist auf einem Zehn-Jahres-Höchststand. In keinem Quartal wurden mehr Tote gezählt als in den vergangenen drei Monaten. Versinkt das Land wieder im Bürgerkrieg?
Reinhard Erös: Ich hoffe, das wird es nicht. Wir hatten in den Jahren 2009 bis 2011 schon deutlich höhere Opferzahlen auf allen Seiten. Nach Angaben der UNAMA (UN-Behörde in Afghanistan) kamen im ersten Halbjahr 2019 übrigens mehr Zivilisten durch US-Bombardements ums Leben als durch Anschläge der Taliban. Darüber wird bei uns allerdings kaum berichtet.
ONETZ: Der Anschlag auf eine Moschee in Nangarhar mit mehr als 60 Toten hat auch in Europa Wellen geschlagen. Kann die Kinderhilfe angesichts der wachsenden Gewalt noch arbeiten?
Reinhard Erös: Bis heute ist nicht geklärt, wer hinter dem mörderischen Anschlag auf eine Moschee im ausschließlich sunnitischen Distrikt Shinwar im Osten des Landes steckt. Die sunnitischen Taliban werden eher nicht dahinter vermutet. Es kommt eigentlich nur der IS - in Afghanistan DAESH genannt - in Betracht. Unsere Arbeit ist dadurch bis heute nicht beeinträchtigt.
ONETZ: Wie geht es den Mitarbeitern und den Schülern der Kinderhilfe?
Reinhard Erös: Unsere Arbeit verläuft weiterhin ohne nennenswerte Probleme. Keiner unserer Mitarbeiter oder unserer Schulkinder kam bislang zu Schaden.
ONETZ: Reisen Sie selbst oder jemand aus Ihrer Familien noch in die Provinz Nangarhar, um die Projekte der Kinderhilfe zu besuchen?
Reinhard Erös: Erös: Ich werde nach meinem letzten Besuch unserer Projekte vor zwei Monaten erneut im Frühjahr 2020 zur Grundsteinlegung einer weiteren Mädchenschule nach Afghanistan reisen.
ONETZ: Wie viele Schulen, Mutter-Kind-Kliniken, Gesundheitsstationen und Waisenhäuser betreibt die Kinderhilfe derzeit in Afghanistan?
Reinhard Erös: Seit 2002 haben wir 35 Schulen, zwölf Computer-Ausbildungszentren, drei Berufsschulen für Schneiderinnen, zwei Berufsschulen für Solartechniker, zwei Waisenhäuser, vier Basis-Gesundheitsstationen und eine Klinik für Frühgeborene eingerichtet. Seit 2013 haben wir 25000 Medizinlehrbücher für alle Fächer in der Landessprache Paschtu erstellt und kostenlos an Studenten verteilt und 35 Voll-Stipendien für Medizin-Studentinnen, Labortechniker und Krankenschwestern vergeben. Alle Projekte laufen bis heute ungestört.
ONETZ: Welche Projekte stehen bei der Kinderhilfe als nächstes an? Gibt es Einweihungen oder Spatenstiche?
Reinhard Erös: Im Januar oder Februar kann ich zusammen mit unserem Freund Leonhard, einem katholischen Pater aus Südtirol, der seit über 50 Jahren in Pakistan arbeitet, den bis dahin fertiggestellten Neubau unserer dritten christlich-moslemischen Mädchen-Oberschule in Sargoda eröffnen. 2019 wurde ich zu 110 Vorträgen eingeladen, um über die politische Lage im Land und über unsere Arbeit zu berichten. Ich hoffe, das Interesse bei uns an diesem geschundenen Land setzt sich auch im nächsten Jahr fort.
Spendenkonto der Kinderhilfe Afghanistan:
Empfänger, Begünstigter: KINDERHILFE AFGHANISTAN
IBAN: DE08750903000001325000
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