Neunburg vorm Wald
14.10.2022 - 14:18 Uhr

Über Hass, Hetze und die Gesellschaft: Diskussion beim Gemeindetag in Neunburg

Hass und Hetze gegen Lokalpolitiker und die Spaltung der Gesellschaft waren Themen beim Podiumsgespräch in der Schwarzachtalhalle. Anlass war die Landesversammlung des Bayerischen Gemeindetags.

Über 50 Prozent der Bürgermeister wurde schon beleidigt oder bedroht, ein Drittel gibt in Umfragen an, sich zu bestimmten Themen nur noch ungern öffentlich zu äußern. Eine Entwicklung, die nachdenklich macht. Einer, der sich mit dem Thema besonders auskennt, ist Andreas Hollstein, ehemaliger Bürgermeister der Stadt Altena in Nordrhein-Westfalen. Er wurde 2017 mit einem Messer angegriffen. In der Neunburger Schwarzachtalhalle sprach er über Hass und Hetze gegen Kommunalpolitiker.

Bei der Landesversammlung des Bayerischen Gemeindetags in Neunburg vorm Wald referierten er und Professorin Ursula Münch, Direktorin der Akademie für politische Bildung. Im Anschluss diskutierten die beiden noch am Podium mit dem bayerischen Umweltminister Thorsten Glauber und Max Gotz, Oberbürgermeister von Erding.

Hass während Flüchtlingskrise

Nach einem Besuch in Griechenland sei er demütig geworden, erzählt Andreas Hollstein. Er habe Bilder gesehen von den Flüchtlingslagern, zum Beispiel auf Lesbos. "Das war nicht das Europa, für das wir einstehen." Als die sogenannte Flüchtlingskrise 2015 dann auch Deutschland traf, fasste er einen Entschluss: 100 Flüchtlinge mehr als vorgeschrieben wolle man in Altena freiwillig aufnehmen. Es gab Konzepte für dezentrale Unterbringung, Integrationspaten, Sprachkurse ab Tag eins – man fühlte sich für diese Aufgabe gerüstet.

Doch dann verändert sich etwas: Zuerst wird er nicht mehr gegrüßt, dann werden auch Frau und Kinder angegangen. Eine Flüchtlingswohnung wird angezündet – auf den Handys der jungen Täter findet man in den sozialen Medien Aufstachelungen von rechts. Schon da habe er sich gefragt: "Sollen wir den Kurs beibehalten?", sagt Andreas Hollstein. Aber er wollte Rückgrat zeigen, auch zu schwierigen Entscheidungen stehen. Die Intensität der Drohungen nahm zu – und kulminierte 2017 in der Gewalttat. In einer Dönerbude habe ihn ein junger Mann angesprochen: "Sind Sie der Bürgermeister?" Dann hatte Hollstein ein Messer am Hals. Er wehrte den Angreifer ab, mit Hilfe der Imbiss-Besitzerfamilie, die er heute seine Lebensretter nennt.

Wieder stellte sich Hollstein eine Frage: "Machst du jetzt weiter?" Doch er dachte sich: "Jetzt erst recht." Er habe das Amt ausgeführt für den Staat, den es zu erhalten gilt, für die Demokratie, und für die Menschen, die sich in der Mitte der Gesellschaft bewegen. Zur Einordnung: 2000 E-Mails erreichten ihn nach dem Angriff, darunter 1700 positive und nur 300 Hass-Mails. Mit solchen Bedrohungen sollte man offen umgehen, findet Hollstein. Damit könne man auch andere Betroffene schützen – denn der Hass könne auch Verwaltungsmitarbeiter, Gemeinderäte und andere treffen. Und wenn ein solcher Fall eintritt, müsse man sich – über Parteigrenzen hinaus – mit den Opfern solidarisieren.

Doch wie gespalten ist die Gesellschaft eigentlich? Darüber sprach Ursula Münch. Sie hält die Gesellschaft nicht für ein Kamel mit zwei Höckern, sondern für ein Dromedar mit nur einem Höcker – der Großteil der Gesellschaft befinde sich durchaus noch in der politischen Mitte. Diese Mehrheit sei nur eben auch eine leisere als die lauten Gruppen an extremen Rändern.

Freilich bereitet die momentane "Multikrise" aber auch Sorgen. Dazu komme ein gesellschaftlicher Wandel: Kirche, Parteien, Gewerkschaften, Verbände und Vereine verlieren an Bedeutung. "Es gibt weniger vertrauensstiftende Bindungen", so Münch. Durch die Digitalisierung ströme außerdem eine ungefilterte Informationsflut auf die Menschen ein. "Das ist ein Einfallstor für Propaganda, Extremismus und Desinformationskampagnen."

Drei Standbeine

Es sei Aufgabe der Politik, nachvollziehbar und kohärent zu handeln, bilanzierte Münch, um keine Verdrossenheit zu schüren. Gleichzeitig sei es aber auch Aufgabe der politischen Bildung, aufzuzeigen, dass es auch in der Politik Schwierigkeiten gibt und eben in einer Demokratie nicht wie in einer Autokratie durchregiert werden könne. Und Aufgabe der schweigenden Mehrheit, des "Dromedar-Höckers", ist es, sich der extremistischen Minderheit entgegenzustellen.

Im Anschluss an die Vorträge diskutierten Ursula Münch, Andreas Hollstein, Thorsten Glauber und Max Gotz noch am Podium. Glauber, er kommt selbst aus der Kommunalpolitik und ist nach wie vor Gemeinderat, erzählte, dass auch er als junger Gemeinderat Beleidigungen erfahren habe. Max Gotz sprach auch von einer Entfremdung der politischen Ebenen: In großen Talkrunden und Medien sei die Kommunalpolitik kaum vertreten, auch von der "großen" Politik werde man bei Gesetzesänderungen nicht mit eingebunden. "Das Miteinander muss auch gelebt werden", sagt er, sonst haben die Kommunalpolitiker keine Chance, politische Entscheidungen den Bürgern zu vermitteln. "So würde sich auch das Vertrauen in die Politik ändern." Dass früher nicht alles besser war, betonte Ursula Münch: Auch vor 20, 30 Jahren habe es schon Hass gegen Kommunalpolitiker gegeben – durch die sozialen Netzwerke finde allerdings durchaus eine stärkere Aufwiegelung statt.

Hintergrund:

Landesversammlung

  • Bayerischer Gemeindetag: Verband bayerischer Kommunen
  • Mitglieder: 2029 der 2031 kreisangehörigen Gemeinden, alle 313 Verwaltungsgemeinschaften Bayerns, 201 Zweckverbände sowie 82 kommunal beherrschte juristische Personen
  • Landesversammlung: 2022 im Austragungsort Neunburg vorm Wald
  • Programm: Wahlen und Ehrungen, Besuch von Ministerpräsident Markus Söder am Mittwoch, 12. Oktober; Vorträge und Podiumsdiskussion am Donnerstag, 13. Oktober
 
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