"Flecken – Walter Höllerer und die Epiphanien der Moderne" heißt das Buch von Heribert Tommek, das passend zum Jubiläum dieser Tage in der neuen Essay-Reihe des Verlages "edition text + kritik" erscheint. Darin beleuchtet der Privatdozent am Institut für Germanistik der Universität Regensburg und Erste Vorsitzende des Literaturarchivs Sulzbach-Rosenberg e.V. Höllerers zukunftsweisenden und bis heute prägenden Einsatz für die Moderne Literatur.
Wobei sich die Wurzeln dieser Moderne für Höllerer bereits bis zu Heinrich Heine erstreckten, der mit seinem Blick auf eine in kalte Einzelheiten zerfallende Gesellschaft und seinem Stil der Gegenläufigkeit und Ironie ein wichtiger Impulsgeber für Arthur Rimbaud, Charles Baudelaire oder Edgar Allan Poe gewesen sei, schreibt Heribert Tommek auf Nachfrage von Oberpfalz-Medien: "Und auch Christian Dietrich Grabbe, Georg Büchner, Annette von Droste-Hülshoff, Eduard Mörike und Adalbert Stifter gehörten für ihn in diese ,moderne Linie‘".
Kritik an der "Eventisierung" des Literaturbetriebs
Die literarische Lebensleistung des Jubilars besteht für Tommek in der Internationalisierung und Modernisierung des Umgangs mit der Literatur. Moderierte Autorenlesungen mit TV-Übertragung, Schreibwerkstätten oder auf Partizipation ausgerichtete Ausstellungskonzepte oder Festivals, auf denen Literatur in verschiedenen Medien wie Film, Hörspiel, Performance etc. begegnet, nennt er als Beispiele. Dass Höllerer mit den Jahren zunehmend kritisch war gegenüber der kulturpolitischen Förderung, der Ökonomisierung und "Eventisierung" des Literaturbetriebes, die er selbst maßgeblich initiiert hatte, gehört allerdings auch zur Wahrheit.
Das von Höllerer aus der Taufe gehobene Literarische Colloquium Berlin (LCB) wie auch das ebenfalls auf ihn zurückgehende Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg stellen für Tommek einen unglaublichen Fundus für das Gedächtnis moderner Literatur dar, die "ihre Gegenwart" immer wieder aufs Neue findet. Bis heute sind beide Institutionen ein fester Begriff, beide sind nach wie vor Maßstab in der Auseinandersetzung mit Nachkriegsbis Gegenwartsliteratur.
Der Name des Gründers dagegen geistere zwar noch in der Literaturwissenschaft herum, spiele aber – zu Unrecht – keine große Rolle mehr, konstatiert Tommek. Höllerers Schriften sind mit Ausnahme seiner Habilitationsschrift "Zwischen Klassik und Moderne. Lachen und Weinen in der Dichtung einer Übergangszeit", nur noch in älteren Ausgaben greifbar. Als Lyriker und als Literaturwissenschaftler war er aber in den 1950er und 60er Jahren bei der Ausbuchstabierung der internationalen Poetik der modernen Lyrik tonangebend: "Ich bin überzeugt, dass die heutige Literaturwissenschaft hier – wieder – sehr viel lernen und von Höllerers ,Detailsicht‘ auf moderne Texturen viele Impulse erhalten kann", sagt der Regensburger Literaturwissenschaftler.
Voraussetzung dafür sei aber eine neue Beschäftigung mit Höllerers literaturgeschichtlichen und poetologischen Schriften, die nur sehr verstreut, vor allem in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift "Akzente" vorliegen oder überhaupt noch nicht aus dem Nachlass veröffentlicht sind. Aber Abhilfe naht: Eine umfangreiche Studienausgabe der literaturgeschichtlichen und poetologischen Texte hat Tommek gemeinsam mit Michael Peter Hehl, dem wissenschaftlichen Leiter des Literaturarchivs, bereits in Angriff genommen.
Ihm selbst sei der Name Höllerer sicherlich bereits im Studium in den 1990er Jahren begegnet, habe aber nach seiner Erinnerung damals noch keine große Rolle für ihn gespielt, erinnert sich Tommek. "Intensiver beschäftigt habe ich mich mit Walter Höllerer und seiner Bedeutung für die Entwicklung der Nachkriegsliteratur erst im Zusammenhang mit meiner Habilitation und dann 2014, als ich Vorsitzender des Literaturarchivs in Sulzbach-Rosenberg wurde".
Politische Orientierung
Die intensive Auseinandersetzung dem Jubilar im Zuge des Buchprojektes "Flecken" habe ihm durchaus zu neuen Erkenntnissen verholfen – "und zwar auf allen Ebenen, die Höllerer in seiner Person verband: "Auf der Ebene des Literaturwissenschaftlers, des Lyrikers und des Literaturmanagers". Als grundlegende Idee für sein Buch "Flecken" benennt der Autor den neuen Blick auf Höllerer selbst, ambivalente Aspekte inklusive: "Er war nicht nur der souveräne Lyriker und ,strahlende Erfinder des Literaturbetriebs‘, sondern er war auch jemand, der die Entzauberung und Entfremdung des modernen Individuums in gesellschaftlichen ,Systemen‘ mit Heine, Büchner, Kafka bis hin zu Celan und international Allen Ginsberg oder Tadeusz Różewicz für sich selbst, sein Leben und sein Wirken sehr stark wahrnahm."
Spätestens ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre habe sich Höllerer auch zunehmend politisch orientiert: gegen eine wirtschaftliche Globalisierung, die alles gleich macht, gegen Atomkraft und Wettrüsten, gegen Umweltzerstörung und Rationalisierungen im Gemein- und Gesundheitswesen – für eine "Geschichte von unten", die von den konkreten Erfahrungsschätzen der Menschen vor Ort erzählt, für eine Aufwertung des Regionalismus, für neue Verständigungsformen zur Gestaltung des Miteinanders, für die Möglichkeit, "gemeinsame Hoffnungen öffentlich auszusprechen", komplettiert Tommek das Bild.
Aber auch die Erinnerung an das ansteckende Lachen Höllerers, das sogar der legendären "Gruppe 47" Eindruck machte, hat Heribert Tommek im Buch festgehalten. Ergänzend dazu erinnert Literaturvermittler Thomas Geiger, der – noch auf Wunsch Höllerers – die Brücke zwischen den beiden Institutionen LCB und Literaturarchiv schlägt, an die "Menschenfängerei" des "sehr zugänglichen Menschen", der vor allem über seine Schüler eine große Spur in der Literaturwissenschaft hinterlassen habe.
Ebenso bemerkenswert findet Geiger die Tatsache, dass sowohl LCB und Literaturarchiv als auch die Höllerer-Zeitschrift "Sprache im technischen Zeitalter" bis heute präsent sind im literarischen Leben. Dass man das nach Möglichkeit auch noch zum 150. Geburtstag des großen Sohnes der Stadt Sulzbach-Rosenberg feiert, wäre sein Wunsch. Ein anderer ist, Höllerer als Entdecker von Literatur, neugierigen Leser, großartigen Lyriker und jemanden in Erinnerung zu behalten, der Literatur mit allen Sinnen verbinden konnte.
Zu Person, Buch und Festakt
- Walter Höllerer, geboren am 19. Dezember 1922 in Sulzbach-Rosenberg, gestorben am 20. Mai 2003 in Berlin, Lyriker, Literaturkritiker, Literaturwissenschaftler, von 1959 bis 1988 Professor für Literaturwissenschaft an der TU Berlin, Gründer des Literarischen Colloquiums Berlin, des Literaturarchivs Sulzbach-Rosenberg sowie der Zeitschriften "Akzente" und "Sprache im technischen Zeitalter".
- Flecken - Walter Höllerer und die Epiphanien der Moderne von Heribert Tommek, 192 Seiten, Klappenbroschur, Verlag "edition text + kritik", 29 Euro
- Festakt zum 100. Geburtstag Walter Höllerers am Donnerstag, 1. Dezember um 18 Uhr im Rathaussaal Sulzbach-Rosenberg, Festredner Staatsminister Markus Blume, Bayerisches Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst, und Prof. Dr. Ernst Osterkamp, Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Anmeldung erforderlich unter 09661/510 111.
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