"Frei leben!": Buchvorstellung im Literaturhaus Oberpfalz erinnert an Frauen der Bohème

Sulzbach-Rosenberg
14.03.2023 - 16:48 Uhr

Sie haben auf die Konventionen gepfiffen und einen hohen Preis bezahlt, um auch der heutigen Generation den Weg zu bereiten: Die Frauen der Bohème zwischen 1890 und 1920. Ein Buch, eine Ausstellung und eine Lesung rücken sie ins Licht.

Die "Frei leben"-Kuratorinnen Sylvia Schütz, Anke Buettner und Laura Mokrohs (von links)

„Frei leben – Frauen der Bohème 1890-1920“ haben die Herausgeberinnen Anke Buettner, Laura Mokrohs und Sylvia Schütz ihr Buch überschrieben, das zugleich der Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Monacensia in München ist. Dreh- und Angelpunkt sind insbesondere die – heute leider fast vergessenen – Schriftstellerinnen Franziska von Reventlow, Margarete Beutler und Emmy Hennings, die in ihren Lebensentwürfen und Texten Fragen aufgeworfen haben, die auch heute noch oder leider wieder politisch brandaktuell sind, schreibt Sylvia Schütz auf Nachfrage von Oberpfalz-Medien und nennt als Beispiele das Recht auf Abtreibung oder die Prostitution.

Laura Mokrohs zieht den Rahmen weiter und findet es bestürzend zu sehen, was die Frauen im Hinblick auf ihre Position in der Gesellschaft damals hatten und was dann in Folge der NS-Zeit und deren in der Nachkriegszeit fortgesetztem Frauenbild im Prinzip wieder alles neu erkämpft werden musste.

Natürlich war der Preis der Freiheit seinerzeit ein hoher: Aufgrund der damaligen gesellschaftlichen wie gesetzlichen Rahmenbedingungen blieb kaum Spielraum, radikale Brüche und höchst prekäre Umstände mussten in Kauf genommen werden, so Sylvia Schütz. Anke Buettner erinnert an den Leidensdruck, nicht denken und arbeiten zu dürfen, sexuell unterdrückt zu sein, kurzum an die Gewalterfahrungen. Laura Mokrohs glaubt allerdings nicht, dass damals nüchtern abgewogen wurde: „ An einem gewissen Punkt in ihrem Leben war für die Frauen der Wunsch nach Selbstbestimmung so drängend, dass sie einfach aus den vorgesehenen Bahnen ausgebrochen sind. Und dann war oft kein Zurück mehr möglich.“ Der Bruch mit der Familie und der Wegfall der finanziellen Absicherung habe schlichtweg auch keinen anderen Weg zugelassen als den Kampf um Eigenständigkeit und berufliche Möglichkeiten.

Nicht nur die heiteren Geschichten

Auf das Thema gebracht hat sie ihre Forschung in Sachen Bohème um 1900. Dabei sei ihr immer wieder aufgefallen, wie oft über diese Subkultur nur die heiteren Geschichten rund um sexuelle Freiheit und wilde Feste erzählt werden. Das aus dieser wissenschaftlichen Auseinandersetzung entstandene Erinnerungsprojekt „Frei leben!“ ist Teil des von der Monacensia als literarischem Gedächtnis der Stadt in München initiierten, kooperativen Forschungsprojekts #FemaleHeritage, ergänzt Sylvia Schütz.

Bei der Recherche überraschte Anke Buettner die Tatsache, dass die Texte inhaltlich wie sprachlich so anschlussfähig und modern sind. Laura Mokrohs wunderte sich, wie eine damals gut vernetzte Schriftstellerin wie Margarete Beutler von der Forschung so lange unbeachtet bleiben konnte. Ausstellung und Buch ändern das jetzt: „Ich bin überwältigt, dass unsere Absicht ungehörte Geschichte zu erzählen so gut aufgenommen wird. Wir haben sehr positive Resonanz über alle Generationen hinweg, von Frauen wie Männern, die in den Texten ihre eigene Biografie wiederfinden.“ Die Verlängerung der Ausstellung bis zum Jahresende trägt dem Rechnung.

Auseinandersetzung mit Geschichtsschreibung

Vom Projekt, das Sylvia Schütz und Anke Buettner nun auch auf Einladung der Buchhandlung Volkert im Literaturhaus Oberpfalz vorstellen, soll zum einen der Impuls ausgehen, sich mit Geschichtsschreibung auseinanderzusetzen: „Ich hoffe, dass Ausstellung und Buch erkennen lassen, dass wir nie die „ganze Geschichte“ kennen. Dass uns in der Schule nur ein männlich geprägtes Wissen vermittelt wird“, so Anke Buettner. Zum anderen solle deutlich werden, dass feministische Geschichtsschreibung nicht gleichbedeutend sei mit dem Erzählen von Frauengeschichte. Vielmehr gehe es um eine Geschichte, die Frauen und Männer einschließt, die sich jenseits patriarchaler Strukturen Gehör verschaffen und sich beispielsweise für Frieden und Gleichberechtigung einsetzen. Darüber hinaus ist Sylvia Schütz überzeugt, dass es nach diesem Auftakt noch vieles zu entdecken und zu erforschen gibt in Sachen Frauen der Bohème .

Bleibt abschließend die Frage, ob die Vorreiterinnen von einst vom heutigen Stand der Dinge enttäuscht wären: „In vielen Punkten sicherlich nicht. Niemand stellt mehr in Frage, ob Frauen Berufe ergreifen, studieren dürfen. Frauen brauchen keinen Vormund mehr, allein zu wohnen ist normal. Frauen dürfen seit den 1970er Jahren sogar ohne die Zustimmung ihres Mannes arbeiten, seit 1997 ist sogar die Vergewaltigung in der Ehe Tabu. Frauengesundheit ist als Thema gesetzt und selbst Abtreibungen sind straffrei möglich, wenn auch nicht überall und ohne Hürden. Es gibt ein gemeinsames Sorgerecht, geheiratet werden muss nicht mehr. Frauen sind in Politik, Kunst, Gesellschaft selbstverständlich vertreten und sichtbar“, konstatiert Buettner.

In vielen anderen Punkten gäbe es ihrer Meinung nach aber sicherlich doch Enttäuschung: „Das Bildungssystem war für alle drei (von Reventlow, Beutler und Hennings, Anmerk.d. Red.) ein Ärgernis. Ihnen ging es um patriarchale Macht, Gewalt, fehlende ästhetische Bildung und eine nicht vorhandene Erziehung und Bildung, die eine freie und glückliche Beziehung zum eigenen Körper und zur eigenen Sexualität möglich macht. Über den Stand heute wären sie erstaunt.“

Sylvia Schütz zitiert Emmy Hennings Satz „Ich schreibe schon die Bedingungen für eine neue Welt“ und befindet, dass wir in dieser neuen Welt heute bestimmt noch nicht angekommen seien, gerade was patriarchale Strukturen und Ungleichheit betreffe. Sie kann sich aber gut vorstellen, dass die Frauen der Bohème den Kampf der heutigen Aktivistinnen und Aktivisten für Gleichberechtigung und Freiheit sehr interessiert verfolgen würden.

Hintergrund:

Wer, wo, wann, was?

  • Anke Buettner leitet seit 2019 die Monacensia im Hildebrandhaus in München, als Kuratorin beschäftigt sie sich u.a. intensiv mit einer Erinnerungskultur der Vielen
  • Laura Mokrohs ist seit 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Institut für Deutsche Philologie der LMU München und beschäftigt sich u.a. mit Bayerischer Literaturgeschichte und dem Verhältnis von Literatur und Politik in der Bohème
  • Sylvia Schütz ist seit 2001 Mitarbeiterin der Monacensia im Hildebrandhaus München, ihre Tätigkeitsschwerpunkte sind Literaturvermittlung und Öffentlichkeitsarbeit, insbesondere die Kuratierung und Konzeption von Ausstellungen
  • Frei leben! Frauen der Bohème 1890-1920, 280 Seiten, Taschenbuch, Verbrecher Verlag, 20 Euro, Ausstellung noch bis Ende des Jahres in der Monacensia im Hildebrandhaus München
  • Buchvorstellung mit Anke Buettner und Sylvia Schütz am Freitag, 17.März um 19 Uhr im Literaturhaus Oberpfalz, Veranstalter: Buchhandlung Volkert, Tickets und Reservierungen unter Tel. 09661/812373
 

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