„Eine solche Biografie ist seit Jahren fällig gewesen“, befindet Autor Harro Zimmermann gegenüber Oberpfalz-Medien. Die bisherigen Versuche auf diesem Feld seien größtenteils auf der Strecke geblieben. Natürlich existiert eine weltweite Forschung mit sehr wichtigen Ergebnissen: „Aber dabei handelt es sich zumeist um Motiv-und Formuntersuchungen, die sich überwiegend mit Spezifika seiner Kunst und Literatur beschäftigen.“
Auch die Tatsache, dass das Grass' Lebenswerk und seine Nachwirkung „von einem Unmaß an verzerrenden Beurteilungen und Verrissen überlagert“ sei, motivierte Zimmermann, der sich bereits seit rund 30 Jahren immer wieder mit dem Literaturnobelpreisträger beschäftigt und einiges über ihn veröffentlicht hat, zur intensiven Auseinandersetzung mit der facettenreichen Person Günter Grass: "Sie ist wie jedes andere Werk dieser Art ein Versuch."
Grass als „pornografischer“ Schriftsteller
Den Grundstein legte eine Taschenbuch-Ausgabe der „Blechtrommel“ aus dem Jahr 1965: „Da war ich 16 Jahre alt.“ Damals galt das Interesse wohl vor allem den erotischen Stellen, mutmaßt Zimmermann rückblickend. Grass habe seinerzeit als besonders freizügiger, gar „pornografischer“ Schriftsteller gegolten.
Zum persönlichen Kontakt kam es dann 1988 bei einem Schriftsteller-Kritiker-Treffen in Telgte. Die Erzählung „Das Treffen in Telgte“ habe er damals schon gekannt, so der Biograf: „Vermutlich ist mein starkes Interesse an seinem Werk vor allem durch diese Begegnung entstanden.“ Nun als Biograf einzutauchen in den Grass'schen Kosmos habe sein Verständnis für die historische Bedeutung und die ästhetische und philosophische Tiefe des Werkes erweitert, konstatiert Zimmermann.
Er sieht Grass als einen spätromantischen Aufklärer, einen Demokraten und Republikaner, der reiche humanistische Quellen ausgeschöpft habe: „Die öffentliche Person, der dreinredende Intellektuelle ist für die Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik gewiss sehr interessant, aber noch beeindruckender ist für mich die geistige und künstlerische Entwicklung und Wirkung eines Mannes, der praktisch aus dem Nichts heraus und mit spärlicher Schulbildung ein Kunst-Werk von Weltrang geschaffen hat.“
Die Deutschen als passable Demorkaten?
Als politischer Mensch hat Grass auch schon so manches aufs öffentliche Tapet gebracht, was heute noch oder wieder virulent ist: „Er hat einiges vorausgesehen und eine deutliche Sprache für das gefunden, was uns alle heute so extrem belastet – die Ausweitung des Rechtsextremismus nicht nur im deutschen Osten, das Gefahrenpotenzial zwischen der Ukraine und Russland seit der Krim-Annexion, die ins Extreme anwachsenden Migrations- und Flüchtlingsströme aus den Kriegs- und Krisengebieten dieser Welt.“ Zu einem entsprechenden Ministerposten im Kabinett Willy Brandt hätte er vermutlich nicht nein gesagt, ahnt sein Biograf.
Grass, der ja selbst aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Waffen-SS und vor allem durch sein langes Verschweigen derselben öffentliche Kontroversen auslöste, habe laut Zimmermann daran geglaubt, dass die Deutschen aus ihrer Vergangenheit gelernt hätten und passable Demokraten geworden seien. Daran würde er auch noch im Oktober 2023 festhalten, ist der Biograf überzeugt.
Er freut sich im Übrigen darauf, bei seinem ersten Besuch im Literaturhaus Oberpfalz etliche Dokumente, auch solche des Gründers Walter Höllerer, im Original zu sehen. Grass' „zwittrige“ Arbeitsweise als „Sprachmetz und Bildwerker“ möchte er in der aktuellen Sonderausstellung „Beim Zeichnen schreiben sich die Sätze fort“ noch einmal neu auf sich wirken lassen.
Womöglich lässt Harro Zimmermann sich auch zum Erwerb eines der verkäuflichen Exponate hinreißen. Einen echten Grass besitzt er allerdings schon seit den 1990er-Jahren: „Ein Originaldruck, der den Künstler zusammen mit einer strotzenden Unke im Vordergrund zeigt. Ich habe das persönlich signierte Bild damals in Behlendorf (Wohnort, Anmerk. d. Red.) von Günter Grass selber erworben.“ Der Künstler sei eben auch ein kluger Geschäftsmann gewesen.
Zu Person, Buch, Buchpräsentation und Ausstellung
- Harro Zimmermann, habilitierter Literaturwissenschaftler, Publizist, Rundfunkredakteur, geboren 1949 in Delmenhorst, arbeitete u.a. als Kulturredakteur bei Radio Bremen, ist Mitglied des Kuratoriums des Medienarchivs Günter-Grass-Stiftung Bremen, wurde 2006 zum außerplanmäßigen Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft der Universität Bremen ernannt
- Günter Grass-Biografie, 944 Seiten mit zahlreichen, teils farbigen Abbildungen, gebunden, Osburg-Verlag, 49 Euro
- Buchpräsentation am Donnerstag, 19. Oktober um 19 Uhr im Literaturhaus Oberpfalz in Sulzbach-Rosenberg, Moderation Michael Peter Hehl, wissenschaftlicher Leiter des Literaturarchivs Sulzbach-Rosenberg
- Beim Zeichnen schreiben sich Sätze fort, Sonderausstellung zum künstlerischen Werk von Günter Grass, noch bis 22. Dezember im Literaturhaus Oberpfalz in Sulzbach-Rosenberg, Dienstag bis Freitag 10 bis 17 Uhr, Sonntag 14 bis 17 Uhr außer an Feiertagen, Führung am Sonntag, 12. November um 15 Uhr
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