Sulzbach-Rosenberg
03.01.2024 - 16:52 Uhr

"Ich kann es mir nicht leisten, im Elfenbeinturm zu leben": Dirigent Alekseenok zu Gast in Weiden und Sulzbach-Rosenberg

Der Orchesterklang, das Repertoire und die Möglichkeit, auf diesem Weg mit Menschen zu kommunizieren, inspirieren den belarussischen Dirigenten Vitali Alekseenok. Jetzt kommt er mit dem Bayerischen Landesjugendorchester in die Oberpfalz.

Von Anke Schäfer

Eigentlich war die Posaune sein Hauptfach am College of Music in Minsk (Belarus). Aber schon damals war Vitali Alekseenok fasziniert vom für alle Studenten verpflichtenden Nebenfach Dirigieren: "Das hat so viel Spaß gemacht und mich komplett gepackt", erzählt der Dirigent im Telefoninterview am Silvesterabend. Die inspirierende Art seiner Minsker Lehrerin komplettierte die Begeisterung für den reichen Klang eines Orchesters, das Repertoire der weltbesten Musik und der Möglichkeit, auf diesem Weg mit den Menschen zu kommunizieren.

Weil Belarus jedoch in alter Sowjetmanier seinen Talenten große Brocken wie eine zweijährige Arbeitsverpflichtung nach dem Abschluss in den Karriereweg legt, wechselte Alekseenok zum Studium nach St. Petersburg in Russland: "Ich hatte den Wunsch, mich weiterzuentwickeln und wollte eigentlich in Tschechien studieren. Aber dafür hätte ich zahlen müssen. Kostenfrei ging es nur in Russland."

Die Gewalt, Repression, Inflation sowie die insgesamt nach den – demokratischen Standards nicht entsprechenden – Präsidentschaftswahlen 2010 deprimierte Stimmung und der Terroranschlag in der Minsker U-Bahn im April 2011 steuerten ein Übriges zum Entschluss bei. Aber auch wenn Alekseenok mittlerweile in Deutschland lebt, seine Heimat trägt er nicht nur im Herzen. 2020 beteiligte er sich an den Protesten gegen Diktator Alexander Lukaschenko, 2021 erschien im S. Fischer Verlag sein Buch "Die weißen Tage von Minsk – Unser Traum von einem freien Belarus".

Hoffnung für Belarus

Die Frage, ob er trotz der äußerst brutal niedergerungenen Oppositionsbewegung immer noch Hoffnung habe für Belarus, beantwortet der Dirigent mit einem klaren Ja: "Ich habe die Hoffnung nicht verloren und viele meiner Landsleute auch nicht." Gleichzeitig verweist er aber darauf, dass man hierzulande das wahre Ausmaß der Repressionen gar nicht wirklich kenne: "Eineinhalbtausend Gefangene, Hunderttausende, die das Land verlassen haben. Aber wir sind 2020 irgendwie erwacht und wir wissen, wer Recht hatte."

Von der Tatsache, allein aufgrund seiner Vita um Stellungnahme zu politischen Fragen gebeten zu werden, fühlt Alekseenok sich keineswegs bedrängt: "Ich sehe die Notwendigkeit, sich zu positionieren. Ich kann es mir nicht leisten, im Elfenbeinturm zu leben, wenn in meiner Heimat Diktatur und in der Ukraine oder im Nahen Osten Krieg herrschen." Empathie zu zeigen und Menschen eine Stimme zu geben, betrachtet er durchaus als Aufgabe eines Künstlers: "Ich versuche, eines nicht vom anderen zu trennen."

Besuche in der kriegsgeplagten Ukraine sind ihm daher ebenfalls ein Anliegen. 2023 war er zwei Mal dort, zuletzt kurz vor Weihnachten in Lwiw (Lemberg), um Puccinis "La Bohème" am dortigen Opernhaus zu dirigieren. Ein wenig Ablenkung für die Menschen, die mit täglichem Luftalarm, Flüchtlingsströmen, Bombenangriffen und Kriegstragödien leben müssen: "Die Eltern des Chefdirigenten wurden in Irpin erschossen, der Hornist hat seinen Bruder an der Front verloren." Und dennoch nahm Alekseenok einen großen Willen, zu kämpfen und weiterzuleben, wahr.

Schlechtes Gewissen bei zu viel russischem Repertoire

Dass man in der Ukraine russisches Musikrepertoire verbannt hat, versteht der Dirigent. Außerhalb des Landes hält er es aber für keine gute Idee, russische Kultur zu canceln: "Dieser Krieg ist leider nur mit Waffen zu stoppen. Ein Gandhi hätte da auch keine Chance, sondern würde ermordet werden." Im Übrigen gehören für ihn russisches Repertoire und das dortige Regime nicht zusammen: "Das Regime hat nicht diese Kultur." Wenn er aber zu viel Russisches spiele, habe er ein schlechtes Gewissen gegenüber den Ukrainern, bekennt Alekseenok.

Bei den anstehenden Konzerten mit dem Bayerischen Landesjugendorchester in Weiden und Sulzbach-Rosenberg wird dieser Spagat nicht nötig. Der aktuellen Weltlage erweist man jedoch mit Benjamin Brittens d-moll-Violinkonzert eine gewisse Referenz. Das Werk des damals erst 25-Jährigen, aber laut Alekseenok "sehr innovativen" Komponisten entstand unter dem Eindruck des spanischen Bürgerkrieges sowie des heraufziehenden Zweiten Weltkrieges.

Eine für Dirigent und Orchester sehr anspruchsvolle und emotionale Aufgabe. Für die Solistin Alexandra Tirsu darüber hinaus eines der anspruchsvollsten Stücke überhaupt: "Sehr viele Facetten im Geigenpart, der zweite Satz technisch fordernd, der dritte Satz bringt den Solisten an emotionale Grenzen." Daran, dass Tirsu all das meistert, hat Alekseenok keinen Zweifel: "Sie ist eine fantastische Geigerin, beherrscht technisch alles sehr gut, hat einen schönen voluminösen Klang, spielt facettenreich, was das Stück ja auch ausmacht, und brilliert mit großer Bandbreite."

Neue musikalische Horizonte

Seine jungen Orchestermitglieder führt er behutsam heran: "Die Arbeit mit Jugendorchestern ist anders als mit professionellen Ensembles. Ich muss verschiedene Sachen erklären, die die Profis schon wissen. Am Anfang lernen wir die Stücke grob von außen kennen, weil es ja für alle neue Erfahrungen sind. Anschließend bauen wir das Orchestergefühl auf – wer führt, wer folgt, welche Prioritäten gibt es und trotzdem sind alle gleich wichtig mit ihren jeweiligen Aufgaben". Das müsse man auf dem Weg zum Miteinander lernen und man lerne das in diesem Fall mit großartiger Musik.

Was ihn dabei selbst inspiriere, seien die leuchtenden Augen seiner Schützlinge: "Dieses Feuer will ich noch größer machen, sie sollen Lust haben, diese Musik zu spielen, zu erleben." Etwas zum Werk oder auch mal etwas ganz anderes zu erzählen, gehört für Alekseenok ebenfalls zum Konzept – damit sich alles tiefer einprägt. Im Falle des Britten-Violinkonzerts kommen der Krieg und die Trauer um die Gefallenen, die sich in der Pasacaglia/Sarabande als Form spanischer Beerdigungsmusik im dritten Satz niederschlägt, zur Sprache: "Wenn man das nicht emotional genug spielt, erweist man den Toten nicht ausreichend Ehre."

Das Ende des Violinkonzerts sei im Übrigen "wirklich sehr interessant". Während das Orchester in Dur gen Hoffnung strebt, bleibt die Geige unentschlossen zwischen Dur und Moll. Er selbst fühle sich bei der Coda immer wie zum Gebet in eine Kirche oder einen Dom versetzt. Aber selbst wenn man mit den musikalischen Details nicht vertraut ist: "Der Schluss berührt jeden auf emotionaler Ebene."

Und vielleicht bestärkt er auch zu aktivem Engagement, um diese Welt wieder in einen friedlicheren Ort zu verwandeln: "Nicht nur reden und hören, sondern etwas Konkretes tun. Es gibt so viele schöne Initiativen", findet Alekseenok. "Gerade in die Kinder und Jugendlichen müssen wir so viel investieren wie wir können. Wenn Kinder etwa in der Ukraine oder im Nahen Osten so wenig Chancen haben, brauchen sie alle Liebe und Unterstützung", sagt der Mann, der mit seiner Arbeit Jugendlichen neue musikalische Horizonte öffnet.

HINTERGRUND:

Zu Person, Buch und Konzert

  • Vitali Alekseenok, Dirigent, geboren 1991 in Belarus, studierte Posaune in Minsk sowie Dirigieren in St. Petersburg und Weimar, seit der Spielzeit 2022/2023 Kapellmeister der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf, seit 2023 dort 1. Kapellmeister und stellvertretender Generalmusikdirektor, seit 2021 künstlerischer Leiter des Charkiw-Musikfestivals /Ukraine, ab 2024 Chefdirigent der Deutschen Oper am Rhein.
  • Die weißen Tage von Minsk - Unser Traum von einem freien Belarus, 192 Seiten, S. Fischer Verlag, 18 Euro
  • Konzerte Bayerisches Landesjugendorchester mit Dirigent Vitali Alekseenok und Solistin Alexandra Tirsu (Violine) am Donnerstag, 4. Januar um 19.30 Uhr in der Max-Reger-Halle in Weiden und am Samstag, 6. Januar um 17 Uhr in der Sporthalle der Krötenseeschule Sulzbach-Rosenberg, Veranstalter Rotary Club Weiden, Lions Club Sulzbach-Rosenberg, Werke von Hindemith, Britten und Mahler, Tickets unter www.nt-ticket.de
 
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