Vergeben wurde das mit 2000 Euro dotierte und mit einem vierwöchigen Aufenthalt vor Ort verbundene Turm-Stipendium vom Literaturhaus Oberpfalz und der Stadt Sulzbach-Rosenberg. Dass Schriftsteller Tomer Dotan-Dreyfus damit zugleich einen Platz in den Annalen sicher hat, freut ihn besonders: „Der Erste zu sein ist für mich das Beste, da ich mit keinem verglichen werden kann“, schreibt er auf Nachfrage von Oberpfalz-Medien.
Das Erlebnis, im zur Ferienwohnung ausgebauten mittelalterlichen Wehrturm der Herzogstadt zu residieren, verdankt Dotan-Dreyfus der Qualität seines Manuskriptes zum zweiten Roman und der Initiative seines Verlages Voland & Quist – selbst bewerben können sich Autorinnen und Autoren nicht, lässt die Pressemitteilung des Literaturhauses Oberpfalz wissen.
Für den in Haifa geborenen und in Berlin lebenden Schriftsteller und Übersetzer bedeutet das Stipendium in der Oberpfalz eine durchaus willkommene Abwechslung: „Ich bin eine Großstadt-Person, bin in einer Großstadt geboren und aufgewachsen, und lebe auch heute in einer. Was mich hier interessiert ist genau das, was mir Berlin nicht anbieten kann. Die Natur und die frische Luft werden auf jeden Fall Teil der Arbeit im Turm. In meiner Vorstellung fange ich jeden Tag mit einer kleinen Wanderung an.“
Sein Fokus beim Erkunden der Umgebung liegt daher logischerweise auf den Wanderwegen, aber auch die sonstigen Überraschungen, die seine neue Heimat auf Zeit zu bieten hat, finden sein Interesse: „Ich mag Sulzbach-Rosenberg langsam entdecken.“ Was auf seinem Schreibtisch im Turm liegen wird und was nicht, wusste der Stipendiat auch schon vorab genau: „Kein Handy. Keine Verbindung zur jetzigen konkreten Weltpolitik erst mal.“ Für ihn als Mensch und jüdische Person sei es wichtig, die Stimme gegen Krieg und Tod von Zivilistinnen und Zivilisten, egal welcher Religion, zu erheben: „Aber ich bin auch erschöpft. Ich bin tatsächlich in Sulzbach-Rosenberg mit Fieber und Bauchschmerzen angekommen, da mein Körper mir schon sagt, ich soll mich beruhigen.“
Kreative Auszeit
Auf die Frage, wie er das auffallende Schweigen der Kulturszene nach dem terroristischen Überfall der Hamas auf Israel empfunden hat, antwortet Dotan-Dreyfus: „Ich habe in einer Veranstaltung gegen Antisemitismus vorgelesen, und es gab noch andere. Ich weiß nicht, was von der Kulturszene erwartet ist, aber wenn jemand eine Idee hat, bin ich offen, es zu hören. Für mich war der 7. Oktober und ist immer noch sehr präsent in der Kulturszene, aber ich möchte anderen ihre Erfahrung nicht nur deshalb absprechen, weil ich was anderes spüre. Deswegen war und bin ich immer offen für Diskussion über mögliche Wege vorwärts.“
In der kreativen Auszeit will er sich nun konzentriert seinem zweiten Roman widmen, der sich überhaupt nicht um Israel, Jüdischsein oder Deutschland drehe: „Es geht um abstraktere philosophische Fragen und um die Literatur selbst. Ich habe einige Bücher und Essays mitgebracht, die mit meinen Themen etwas zu tun haben.“
Der Oberpfälzer Öffentlichkeit stellt sich Tomer Dotba-Dreyfus mit einer Lesung aus seinem Erstling „Birobidschan“ vor, mit dem er auch auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2023 stand. Auf das titelgebende sibirische Schtetl, Hauptstadt des gleichnamigen autonomen jüdischen Gebiets, sei er beim Besuch eines Jiddischkurses in Berlin gestoßen: „Jiddisch war die Muttersprache meiner Großeltern und ich wollte sie immer besser können. Irgendwann stieß ich auf diesen Ort Birobidschan, weil es der einzige Ort der Welt ist, wo Jiddisch die Amtssprache ist. Ich fand es interessant und unmöglich, Jiddisch als Amtssprache klang für mich einfach fiktional.“
Gut fürs Schreiben und die Seele
In den sieben Jahren, die er am Roman gearbeitet hat, war aber nicht immer nur er Herr des Geschehens – manche Geschichte dieses faszinierenden, ungewöhnlichen Panoptikums haben auch ihn gefunden: „Wenn man so lange schreibt, fängt man langsam an, in manche Figuren sogar verliebt zu werden. Birobidschan war ein Experiment in Politik, ist für mich als Erzähler ein literarisches Experiment, und als Autor auch ein Experiment in Beziehungen und Freundschaften, die ich verloren habe, sobald das Schreiben zum Ende kam.“
Für seinen Stipendiums-Aufenthalt im Wehrturm wünscht er sich jetzt, „dass ich wirklich den Schritt aus Deutschland und in den Ort, wo mein nächster Roman spielt, schaffen kann. Es wird nicht nur für mein Schreiben gut, sondern wahrscheinlich auch für meine Seele.“ Für die Zukunft unserer Gesellschaft wünscht er sich, „dass wir uns mehr trauen, dass wir uns als eine stärkere Gesellschaft verstehen werden, die schwierige Diskussionen führen kann.“ Und den Mut, ohne Angst unsere Gesellschaft durch Gespräche zu konstruieren und nicht durch Ausschließungen von Stimmen.
Zu Person, Buch und Lesung
- Tomer Dotan-Dreyfus, Schriftsteller und Übersetzer, geboren 1987 in Haifa/Israel, Studium Philosophie und Komparatistik in Berlin, Wien und Paris, lebt in Berlin.
- Birobidschan, Roman, 320 Seiten, Broschur, Verlag Voland & Quist
- Lesung und Gespräch mit Turm-Stipendiat Tomer Dotan-Dreyfus am Montag, 6. Mai, um 19 Uhr im Literaturhaus Oberpfalz, Moderation Thomas Geiger (Literarisches Colloquium Berlin), Tickets unter www.nt-ticket.de
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