Tirschenreuth
19.12.2019 - 11:19 Uhr

Altersarmut: Mitarbeiter im Sozialamt Tirschenreuth schockiert

Das Thema "Altersarmut" berührt viele Menschen. Nun will Wolfgang Jäger, Leiter des Sozialamts in Tirschenreuth, über Grundsicherung im Alter aufklären.

Wolfgang Jäger, Leiter des Sozialamts in Tirschenreuth, und seine Stellvertreterin Judith Sollfrank helfen Personen, die ihren Lebensunterhalt alleine nicht decken können. Sie wissen, wann jemand Anspruch auf Grundsicherung im Alter hat, und helfen weiter. Bild: lue
Wolfgang Jäger, Leiter des Sozialamts in Tirschenreuth, und seine Stellvertreterin Judith Sollfrank helfen Personen, die ihren Lebensunterhalt alleine nicht decken können. Sie wissen, wann jemand Anspruch auf Grundsicherung im Alter hat, und helfen weiter.

Auf unserer Onetz-Facebookseite wurde stark der Artikel "Wenn zu wenig Rente in die Altersarmut führt" diskutiert. Im Mittelpunkt des Berichts stand eine 77-Jährige aus Krummennaab, die von der Redaktion mit dem Namen Maria Meyer anonymisiert wurde. Sie erklärte, dass ihr im Monat nach allen Abzügen weniger als 100 Euro zur Verfügung stünden. Von Behörden erhalte sie kein Wohngeld und keine Grundsicherung.

Krummennaab22.11.2019

Das führte zu viel Aufregung auf unserer Facebookseite. Es gab zahlreiche Reaktionen: 104 Kommentare, 107 Gefällt-mir-Angaben, darunter auch traurige und wütende Smilies. Der Artikel wurde 33 Mal geteilt. Ein Nutzer schrieb: "Einfach nur traurig, dass es so was heutzutage überhaupt gibt. Da hat man echt Angst, alt zu werden, zumindest wenn man sich nicht privat abgesichert hat." Ein weiterer meinte: "Das ist nur beschämend." Einige Nutzer wollten Maria Meyer helfen oder etwas spenden. Andere stritten darüber, wer Schuld an der Misere der Frau hat.

Oft falscher Stolz

Die Diskussion ließ auch Wolfgang Jäger, Leiter des Sozialamts in Tirschenreuth, nicht kalt. Er und seine Mitarbeiter waren geschockt von den Kommentaren auf Facebook. Sie haben den Artikel gelesen und versucht zu errechnen, was Frau Meyer theoretisch an Grundsicherung im Alter zustünde. "Wir kennen die Frau nicht. Einige Parameter haben uns gefehlt", erklärte Jäger. Doch er und seine Mitarbeiter sind sich sicher, dass die Frau nicht alle ihre Möglichkeiten ausgeschöpft hat. Jäger weiß, dass es sich um ein komplexes Thema handelt und die Schamgrenze bei vielen Betroffenen groß ist. Er betont: "Es ist ein falscher Stolz. Grundsicherung im Alter ist ein Anspruch für den man sich nicht zu schämen braucht." Wenn jemand an seine Tür klopft und Sozialhilfe beantragt, prüfen die Mitarbeiter des Sozialamts zunächst, in welchen rechtlichen Rahmen sich die jeweilige Person bewegt. "Wer zu wenig Altersrente erhält, ist zunächst hilfebedürftig und hat Anspruch auf eine Grundsicherung nach dem Sozialgesetzbuch XII", erklärt Jäger.

172 Hilfeempfänger 2018

Doch wie setzt sich die Hilfebedürftigkeit zusammen? "Grundsicherung im Alter erhalten Personen, die in Deutschland leben, 65 Jahre oder älter sind und ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem eigenen Einkommen und Vermögen decken können." Nach dem Sozialbericht 2019 haben im Vorjahr 172 Hilfeempfänger im Landkreis diese Grundsicherung im Alter erhalten. "Es lässt sich aber davon ausgehen, dass die Dunkelziffer noch viel größer ist", sagt Judith Sollfrank, stellvertretende Leiterin des Sozialamts.

Einkommen und Vermögen seien Grundlage für die Berechnung der Sozialhilfe-Bedürftigkeit. Darunter fällt das eigene Einkommen sowie das des Ehe- oder Lebenspartners. "Beim Vermögen denken Leute häufig, ihnen werde das Haus weggenommen." Jäger betont, dass es hier Ausnahmen gibt. Hierzu zählt auch ein angemessenes, selbst genutztes Hausgrundstück. "Gehört einem aber ein Zwei- oder Mehrfamilienhaus, und man wohnt dort allein, erwarten wir schon, dass der nicht genutzte Wohnraum zu Geld gemacht wird, zum Beispiel in Form von Miete." Auch ein angemessener Hausrat wird ausgenommen. "Damit meinen wir einen normalen Haushalt, der keine Luxusausstattung wie goldene Wasserhähne hat." An Bargeld darf eine Einzelperson 5000 Euro besitzen, bei Ehe- oder Lebenspartnerschaften sind es 10 000 Euro.

Zum notwendigen Lebensunterhalt einer Person zählen wiederum Dinge wie Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Ernährung, Unterkunft oder Heizung. "Auch persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens, wie ein Kinobesuch oder einmal Essen gehen zählen hier mit rein." Um diesen grundlegenden Bedarf zu decken, hat das Sozialamt verschiedene Berechnungsbausteine.

So setzt sich der gesamte Bedarf aus einem grundlegenden Regelbedarf der Person, den angemessenen Wohn- und Heizkosten, Beiträgen für die Kranken- und Pflegeversicherung und einen eventuellen Mehrbedarf (zum Beispiel für Personen, die einen Schwerbehindertenausweis mit Merkzeichen "G" haben oder kostenaufwändige Ernährung). "Das Wort 'angemessen' ist ein strittiger Begriff. Es ist schwer zu bestimmen, was angemessen ist uns was nicht", gibt Jäger zu. Der Begriff sei häufig Gegenstand bei Streitigkeiten vor dem Sozialgericht.

Weiden in der Oberpfalz19.02.2020

Sechs Regelbedarfsstufen

Was ein grundlegender Regelbedarf ist, regelt das Sozialgesetz in den Regelbedarfsstufen (RB). Davon gibt es sechs Stück. Die ersten beiden können bei Grundsicherung im Alter eine Rolle spielen. RB1 gilt für jeden Erwachsenen, der alleine in einer Wohnung lebt (Bedarf liegt bei 424 Euro). Für Erwachsene, die in einer Ehe oder Lebenspartnerschaft leben, gilt RB2 (383 Euro).

Weiterhin geht es um die angemessenen Kosten der Unterkunft. Hierzu sammelt der Landkreis regelmäßig Daten, um einen Mittelwert für die ortsüblichen Mieten zu erhalten. "Spätestens nach vier Jahren muss eine neue Mietwerterhebung gemacht werden", sagt Jäger. Eine angemessene Wohnfläche für eine Person entsprechen 50 Quadratmetern. "Diese 50 Quadratmeter sind aber nicht in Stein gemeißelt", betont Jäger. Anhand einfacher Rechenbeispiele (Hintergrund) zeigt der Sozialamtsleiter, wie sich die Grundsicherung im Alter berechnen lässt. Seine Kollegin und Stellvertreterin Judith Sollfrank hofft, dass sich künftig mehr trauen, den Weg ins Sozialamt zu finden. "Wir beißen nicht. Natürlich müssen wir bei jedem Antrag nachfragen und prüfen. Aber wir helfen auch gerne weiter."

Info:

Rechenbeispiel 1: Grundsicherung im Alter

Um seine Ausführungen zu untermalen, erklärt Wolfgang Jäger, Leiter des Sozialamts in Tirschenreuth, die Grundsicherung im Alter anhand eines Rechenbeispiels. "Nehmen wir eine Rentnerin, die 68 Jahre alt ist und Witwe." Sie ist schwerbehindert und hat einen Ausweis mit dem Merkzeichen "G".

Die Frau erhält in dem Beispiel eine Rente von 150 Euro und eine Witwenrente in Höhe von 446 Euro. Ihre Wohnung kostet 250 Euro, Heizkosten hat sie rund 50 Euro. "Rechnet man die Altersrente und die Witwenrente zusammen, ergibt sich als Einkommen 596 Euro." Nach dem Gesetz würde der Frau in diesem Beispiel ein Regelbedarf von 442 Euro zustehen. Zusätzlich hätte sie einen Mehrbedarf (17 Prozent des Regelbedarfs) wegen ihrer Behinderung von 72 Euro. "Rechnet man dazu die Heiz- und Wohnkosten, ergibt sich eine Bedarfssumme von 796 Euro." Von den 796 Euro rechnet der Gesetzgeber das Einkommen in Höhe von 596 Euro ab, was eine monatliche Hilfe von 200 Euro ergibt, welche die Rentnerin zusätzlich bekäme.

Weitere Informationen zur Grundsicherung im Alter finden Sie auf der Webseite des Landkreis Tirschenreuth

Hier gibt es einen Überblick zur Sozialhilfe im Landkreis Tirschenreuth

Hier finden Sie den aktuellen Sozialbericht 2019 des Landreis Tirschenreuth

Info:

Rechenbeispiel 2: Grundsicherung im Alter bei einem Ehepaar

Aber wie würde das bei einem Ehepaar oder bei einer eheänlichen Lebenspartnerschaft aussehen? "Stellen Sie sich ein Ehepaar vor, wo beide Partner über 65 Jahre alt sind." Die Ehefrau ist in diesem Beispiel wieder schwerbehindert mit dem Merkzeichen "G" im Ausweis. Der Mann erhält eine Rente von 622 Euro, die Frau eine Rente von 337 Euro. Die Kosten der Wohnung betragen 300 Euro und die Heizkosten 80 Euro.

Berechnung der Grundsicherung Ehemann Ehefrau
Regelsatz 382 Euro 382 Euro
Mehrbedarf von 17 % wg. Scherbehinderung + "G" 0 Euro 65 Euro
Unterkunftskosten 150 Euro 150 Euro
Heizkosten 40 Euro 40 Euro
Summe Bedarf: 572 Euro 637 Euro
- Einkommen 622 Euro 337 Euro
Zwischenergebnis - 50 Euro 300 Euro
Einkommensübertrag - 50 Euro
Monatliche Hilfe 0 Euro 250 Euro
Anspruch auf Grundsicherung Nein Ja
Info:

Mietwerterhebung im Landkreis Tirschenreuth

Um zu ermitteln, was angemessene Wohnkosten im Landkreis sind, müssen Städte und Kreise ein sogenanntes "Schlüssiges Konzept" nach den Vorgaben des Bundessozialgerichts erarbeiten. Auf diese Weise wird ermittelt, wie hoch Mieten für Sozialhilfe- und Hartz IV-Empfänger sein dürfen. Um das zu schaffen, werden aktuell bis zu 3000 Privatmieter im Landkreis angeschrieben und über eine Umfrage die ortsüblichen Mietwerte erhoben.

Die Befragung ist freiwillig, anonym und mit dem Datenschutzbeauftragten des Landkreises abgestimmt. Sämtliche Angaben werden von einer beauftragten Firma erhoben und ausgewertet. Sozialamtsleiter Wolfgang Jäger hofft auf eine gute Beteiligung an der Befragung. "Unser Ziel ist es, eine aktuelle, rechtssichere Grundlage für die Berechnung angemessenere Unterkunftskosten zu bekommen. Wir brauchen einen Rücklauf von mindestens zehn Prozent, damit die Zahlen repräsentativ sind."

Broschüre zum Thema Sozialhilfe vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales

Kommentar:

Falsche Scham nicht vor das eigene Recht stellen

Viele Menschen, die von Armut betroffen sind, schämen sich, Hilfe in Anspruch zu nehmen, die ihnen aber rechtlich zustehen würde - auch hier im Landkreis Tirschenreuth. Das unterstreichen aktuelle Zahlen des Sozialberichts 2019. Erstmals gibt es darin ein Kapitel über die Mitterteicher Tafel e. V., das darüber informiert, wie viele Einzelpersonen oder Familien 2018 tatsächlich Lebensmittel abgeholt haben (320) und wie viele Anspruch hätten (1596). Gerade mal 20,05 Prozent der Bedarfsgemeinschaften nutzten das Angebot der Tafel. Als Gründe werden in dem Bericht Scham und fehlende Mobilität genannt. In Hinblick auf die Grundsicherung im Alter zählt der Bericht 172 Hilfebedürftige im vergangenen Jahr. Doch die Mitarbeiter des Sozialamts Tirschenreuth vermuten auch hier, dass die Dunkelziffer der Betroffenen höher ist. Sowohl das Sozialamt als auch das Angebot der Tafel bieten jedoch rechtliche Ansprüche, die Menschen mit wenig Geld nutzen sollten. Der im Bericht geschilderte Fall zeigte, dass das Sozialamt bemüht ist, Betroffene zu unterstützen. In diesem Sinne sollten künftig mehr Menschen ihre Scham überwinden und sich dazu aufraffen, helfende Institutionen aufzusuchen, um ihr Recht einzufordern.

Lucia Seebauer

 
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