Eine der besonders einfühlsam von der Fotografin Carina Feneis Portraitierten ist die in Weiden lebende Maria. Wie ihre anderen, konsequent nur beim Vornamen genannten Schicksalsgenossinnen und -genossen Rosa, Ursula, Anna, Christl, Alois und Erna hat Maria am eigenen Leib erlebt, wieviel Leid und Elend sich hinter dem kleinen Wort Flucht verbergen. In dem Buch "Vertrieben: eine Fotodokumentation", gibt die Fotografin anonymen Schicksalen konkrete Gesichter.
Bewusst für das Verlassen der sudetendeutschen Heimat entscheiden konnte sich Maria nicht. Stattdessen musste sie einer grausamen Anordnung Folge leisten.
Für all die schwer erträglichen Erinnerungen, die sie mit ihrem Fotoband vor dem Vergessen bewahrt, ist Carina Feneis Jahrzehnte zu jung. Sie wurde während ihres Design-Studiums in Nürnberg durch das Semesterthema "Menschenrechte" sensibilisiert: „Über meinen Freund, der von Sudetendeutschen abstammt, bin ich auf das Schicksal seiner Familie aufmerksam geworden. Nach ersten Gesprächen mit der Schwester seiner Oma wurde mir klar, wie wenig ich über die Vertreibung damals wusste“, erzählt sie auf schriftliche Nachfrage von Oberpfalz-Medien. Die Tatsache, dass sie selbst in Lohma, einem Ortsteil von Pleystein (Kreis Neustadt/WN) nahe der tschechischen Grenze aufgewachsen ist, tat ihr Übriges.
Zeitzeugen fürs Projekt waren schnell recherchiert. „Durch kurzes Umhören bei Familie, Freunden und Nachbarn habe ich innerhalb kurzer Zeit viele Menschen, die nach den Verbrechen des Nationalsozialismus vertrieben wurden, gefunden. Je älter die Betroffenen, desto mehr Erinnerungen und Details konnten sie mir mitteilen“.
Die ersten vier Vertriebenen hat sie während des Studiums innerhalb von drei Monaten besucht, interviewt und fotografiert. Drei weitere Schicksale kamen erst einige Zeit später dazu. Der 2019/20 an die Fotografin verliehene Förderpreis der Sudetendeutschen bestärkte Carina Feneis zusätzlich in ihrem Vorhaben und motivierte dazu, einen Verlag für ihr Projekt zu finden.
Bei manchen der in ihrem Fotobuch Verewigten musste das Vertrauen allerdings erst wachsen. Die Zeit habe sie ihnen und auch sich selbst gelassen – schließlich will all das Erschütternde und zutiefst Bewegende erst einmal verdaut sein. Bei den Erzählenden sei jedoch auch eine Erleichterung zu spüren gewesen. „Manche haben ihre Geschichte zum ersten Mal ganzheitlich erzählt. Bei den dramatischen Erlebnissen haben wir alle eine Zeit lang geschwiegen. Da waren viele sehr emotionale Erinnerungen dabei, die in dem Moment wieder durchlebt wurden“, so Feneis.
Am Ende habe sie aber sehen können, wie stolz die Vertriebenen auch sind, ihr Schicksal gemeistert und sich ein neues Leben aufgebaut zu haben. Die veröffentlichte Dokumentation trägt wohl weiter dazu bei. Sie selbst habe während dieser Zeit erkannt, dass zwar alle Personen im Buch das gleiche Schicksal teilen, jede aber trotzdem ihre eigene dramatische Geschichte erlebt hat: „Man könnte sieben Bücher darüber schreiben“, sagt Feneis. Darüber hinaus hat sie gelernt, einfach alles zu schätzen - von der Wohnung, der Familie, der Mobilität bis hin zu jedem Gegenstand, den man besitzt.
Die Fotografin ist davon überzeugt, dass das Buch auch anderen dabei helfen kann, das eigene Leben mehr wertzuschätzen und vor allem mehr Verständnis für alle Vertriebenen und Geflüchteten aufzubringen. „ Es erschreckt mich, dass sowohl Kriege als auch Vertreibungen nicht aufhören oder zumindest abnehmen - im Gegenteil. Die Geschichte wiederholt sich - weltweit werden immer mehr Menschen vertrieben und enteignet, und zwar so viele wie noch nie“, konstatiert Feneis und zitiert die neueste UNHCR Statistik, die aktuell weltweit 53,2 Millionen Vertriebene zählt. Tendenz steigend. Hinzu kommen noch 27,1 Millionen Flüchtlinge und 4,6 Millionen Asylsuchende. „Die Menschheit schafft es nicht, die Ursachen von Flucht und Vertreibung zu mindern“. Aber zumindest das Bewusstsein fürs Thema schärft Carina Feneis mit ihrer Fotodokumentation „Vertrieben“ .
Zu Person und Buch
- Zur Person: Carina Feneis studierte nach der Ausbildung zur Mediengestalterin Design mit Schwerpunkt Fotografie an der Technischen Hochschule Georg-Simon-Ohm in Nürnberg und arbeitet als Grafikdesignerin in Regensburg. Zuletzt sorgte sie mit dem Bildband "ZOIGL- Ein Kult in Bildern" für Aufsehen.
- Zum Buch: "Vertrieben: eine Fotodokumentation", gebundene Ausgabe, 140 Seiten, Morsak Verlag, 24,90 Euro, beim Festival " Šumava Litera" in Vimperk/Tschechien geehrt mit dem ersten Johann-Steinbrenner-Preis für das beste deutschsprachige Buch über den Böhmerwald
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