Kinder aus Fenster geworfen: Neuer Prozess für Mutter

Weiden in der Oberpfalz
04.07.2022 - 16:27 Uhr
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Das Landgericht Weiden hat eine junge Mutter, die ihre Kinder aus dem Fenster geworfen hatte, in der Psychiatrie untergebracht. Der Bundesgerichtshof hebt dieses Urteil nun auf. Der "Verfolgungswahn" der Frau könne realen Hintergrund haben.

Neuer Anlauf. Die syrische Mutter, die im Dezember 2021 schon einmal vor Gericht stand, wird noch einmal verhandelt.

Konkret bedeutet das: Der Fall muss noch einmal vor Gericht verhandelt werden, diesmal vor einer anderen Strafkammer in Weiden. Bis dahin werden einige Monate vergehen: Zuvor muss ein neuer psychiatrischer Sachverständiger die 31-Jährige untersuchen.

Alles wieder offen

In erster Instanz war Dr. Johannes Schwerdtner, Leiter der forensischen Klinik in Mainkofen, der Gutachter. Er attestierte Schizophrenie und riet dringend zur stationären Behandlung. Die Behandlungsdauer schätzte er auf 1 bis 1,5 Jahre. Das wollte die Syrerin überhaupt nicht. Sie hatte Angst, viele Jahre in der Forensik bleiben zu müssen. Jetzt ist für sie alles wieder offen, auch eine Unterbringung auf Bewährung. Dann käme sie auf freien Fuß.

Landgerichtssprecher Matthias Bauer bestätigte gegenüber Oberpfalz-Medien die Aufhebung des Urteils. Die Feststellungen zum Tatgeschehen bleiben bestehen. Sprich: Man wird nicht alle Zeugen erneut laden müssen. Auf dem Prüfstand stehen nur Schuldfähigkeit und Unterbringung. Die vierfache Mutter hat jetzt vielleicht bessere Karten als beim Prozess im Dezember 2021, wo sie sehr verschlossen war. Inzwischen ist sie seit sieben Monaten in Behandlung und medikamentös eingestellt. Ihr Zustand hat sich nach Kenntnisstand von Richter Bauer stabilisiert.

Die Tat bleibt nach wie vor gravierend. Die vierfache Mutter hatte im April 2021 ihre zweijährige Tochter aus dem Fenster des Weidener Frauenhauses geworfen. Tiefe: 5,40 Meter. Die zweite Tochter (9) sprang hinterher, gedrängt von der Mutter, und brach sich zweifach das Bein. Die Polizei konnte die Frau schließlich überwältigen, während sie sich bereits selbst über die Fensterbank schwang. In einer Bauchtrage hing das Baby. Der älteste Sohn (10) versuchte sie festzuhalten.

Doppelt auf der Flucht

Wie sich vor Gericht herausstellte, befand sich die 31-jährige Syrerin in einer aus ihrer Sicht ausweglosen Situation. Sie war doppelt auf der Flucht: Vor dem Bürgerkrieg und vor ihrem gewalttätigen Ehemann. Ihr Mann war 2015 ins Allgäu gekommen, sie reiste 2018 nach Deutschland nach. Nach Messerattacken in Flüchtlingsheimen wurde der Ehemann zweimal verurteilt. Ihm stand die Abschiebung in die Türkei bevor - und sie sollte mitgehen. Andernfalls drohte er ihr mit dem Tod. Im April 2021 wurde die Polizei vier Mal zur Wohnung gerufen. Zuletzt hatte der Mann die Tür eingetreten, die der Sohn von innen zuhielt. Der Gewaltschutzbeauftragte der Polizei brachte Frau und Kinder schließlich im Frauenhaus Weiden unter - so weit weg wie möglich.

Mit diesen Aspekten ist sich aus Sicht des 6. Strafsenats des BGH in erster Instanz unzureichend auseinandergesetzt worden: Die "bizarren Verhaltensweisen" und "irrationalen Verfolgungsängste" könnten laut BGH realen Hintergrund gehabt haben.

Auch in der Oberpfalz legte sich die Angst vor den Brüdern ihres Ehemannes nicht. Die 31-Jährige und vermutete Spioninnen unter den Mitbewohnerinnen. Der psychiatrische Gutachter sah darin ein "Einbeziehen der Verwandtschaft in ihren Verfolgungswahn". Der BGH kann sich das auch anders vorstellen: Nachdem sich die Frau - verwurzelt im muslimischen Kulturkreis - getrennt habe, sei ein Nachstellen der Verwandtschaft "nicht fernliegend".

Wenige Stunden vor der Tat zertrümmerte die Frau mit einem Hammer ihr Handy, bis die Funken flogen. Die Mitarbeiterinnen des Frauenhauses fürchteten um das Kindeswohl. Sie planten im Stillen einen Termin beim Psychiater. Die Fensterstürze kamen dem knapp zuvor. "Es geht los", schickte die Syrerin ihrer Mutter als Sprachnachricht. Die Richter interpretierten das so: "Jetzt greife ich an, für mich und die Kinder den Tod zu suchen." Ihr Verteidiger Rouven Colbatz sagte im Plädoyer: "Das wollte sie nicht. Sie wollte fliehen."

Colbatz ist froh um die Entscheidung des BGH. Er hofft im Sinne seiner Mandantin die weitere Unterbringung in der geschlossenen Einrichtung abwenden zu können. Die 31-Jährige möchte ihre Kinder wieder treffen, die seit der Tat in Pflegefamilien leben.

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Hintergrund:

BGH: Leipzig statt Karlsruhe

  • Seit 2020 ist für Urteile des Landgerichts Weiden nicht mehr Karlsruhe, sondern Leipzig zuständig.
  • Der Bundesgerichtshof hat dort einen neuen 6. Strafsenat gebildet. Dieser beurteilt ab sofort die Revisionen aus dem OLG-Bezirk Nürnberg.
  • Geführt wird er derzeit von stellvertretendem Vorsitzenden Professor Günther Sander.
 
 

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