Die Zeitung durch die Augen der Leser sehen

Weiden in der Oberpfalz
31.05.2021 - 08:59 Uhr

Die Redaktion entscheidet täglich darüber, was in der Zeitung steht. Das wichtigste Kriterium für die Auswahl ist, dass sich möglichst viele Leserinnen und Leser für ein Thema interessieren. Aber: Wie lässt sich das am besten vorhersagen?

Mit einem Scan-Stift streicht der Leser bei der "Lesewert"-Messung jeweils den letzten Satz an, den er in einem Artikel gelesen hat. Aus den so gewonnenen Daten lernt die Redaktion, die Zeitung besser auf die Bedürfnisse der Leser zuzuschneiden.

Die Digitalisierung der Medien hat uns Journalisten vor große Herausforderungen gestellt. Im Gegenzug liefert sie aber auch Antworten auf die Frage, die uns bei unserer Arbeit am meisten umtreibt: Für welche Themen interessieren sich unsere Leserinnen und Leser wirklich? Im Internet lässt sich das sehr gut messen. Wir wissen nicht nur, wie viele Menschen einen Artikel anklicken. Wir erfahren auch, wie viele davon den Artikel zu Ende lesen und wie viele sich durch Bildergalerien klicken, interaktive Grafiken nutzen oder Videos anschauen. Diese Erkenntnisse nutzen wir, um unsere Inhalte möglichst so anzubieten, dass sie für viele unserer Leser – und vor allem unserer Abonnenten – interessant sind.

Bei der gedruckten Zeitung ist es viel schwieriger, das Leseverhalten zu messen. Führende Spezialisten auf diesem Gebiet sind die "Mehrwertmacher" aus Dresden. Sie haben eine Methode namens "Lesewert" entwickelt. Diese kann Redaktionen zeigen, welche Artikel in der Zeitung von wie vielen Lesern gelesen werden. Und – für uns noch spannender – wie viele Leser den Artikel bis zum Ende lesen. Für diese Messung wird eine repräsentative Gruppe von Abonnenten ausgewählt. Diese bekommen einen Scanstift, der wie ein großer Textmarker aussieht. Damit "markieren" sie dann die Texte, die sie in der Zeitung lesen, und vor allem die Stellen, an denen sie jeweils aus dem Text aussteigen. Die Ergebnisse aus diesen Scans werden – natürlich anonymisiert – ausgewertet und der Redaktion in Form eines "Lesewerts" pro Artikel zur Verfügung gestellt.

Als die Technik namens "Readerscan", die dieser Methode zugrunde liegt, vor knapp 20 Jahren eingeführt wurde, hatten viele Journalisten große Vorbehalte. Viele befürchteten, es werde jetzt nur noch um die "Einschaltquote" von Artikeln gehen, und die redaktionelle Qualität werde dabei auf der Strecke bleiben. Das Gegenteil war der Fall. Denn es stellte sich heraus, dass die überwiegende Mehrheit der Tageszeitungsleser Qualität zu schätzen weiß – und zwar in Form von gut recherchierten, verständlich formulierten Texten über Themen, die sie interessieren. Doch gerade was dieses Interesse angeht, gab es dann doch einige überraschende Erkenntnisse. Viele Themen, die in Redaktionen für "wichtig" gehalten wurden, kamen bei den Lesern überhaupt nicht an. Andere fanden große Beachtung, auch wenn sie in der Zeitung eigentlich nur als Randnotiz vorkamen.

Im Kern lassen sich die Erkenntnisse aus den Zigtausenden von Messungen, die seitdem bei vielen verschiedenen Zeitungen durchgeführt wurden, auf einen Satz herunterbrechen: Journalisten müssen bei der Auswahl von Themen immer die Perspektive der Leser einnehmen. Sie müssen sich fragen: Warum sollte dieses Thema unsere Leser berühren? Und: Welche Fragen stellen sich unsere Leser dazu, und wie können wir diese am besten beantworten? Wir als Oberpfalz-Medien-Redaktion profitieren von den Erfahrungen, die die "Mehrwertmacher" aus den Messungen bei vielen anderen Zeitungen gewonnen haben. Bereits zweimal hat ein Lesewert-Coach unsere Ausgaben über einen längeren Zeitraum analysiert und bewertet, wo wir Potenzial haben, uns der Leserperspektive noch besser anzunähern. Diese Erkenntnisse sind unter anderem in die Neustrukturierung der Zeitung vor einem Jahr eingeflossen.

Weiden in der Oberpfalz31.05.2021

Um zu erläutern, was Perspektivwechsel im Lokaljournalismus bedeutet, ein Beispiel: "Die Gemeinde XY will für 5 Millionen Euro eine Umgehungsstraße bauen." Zweifellos ein wichtiges Thema, das den Bürgermeister und die Gemeinderäte beschäftigt. Aber erreichen wir damit in dieser Form auch unsere Leser? Versetzen wir uns in deren Lage und fragen uns für jeden Einzelnen: Warum genau sollte sich jemand dafür interessieren? Vielleicht ist er als Anwohner in dem Ort vom jetzigen Durchgangsverkehr betroffen. Oder er muss als Pendler jeden Tag durch den Ort fahren und freut sich darauf, künftig jeden Tag Zeit zu sparen. Oder er geht bisher gerne genau in dem Wald spazieren, der für die neue Straße gerodet werden soll. Oder er wünscht sich, dass die Gemeinde ein Jugendzentrum baut, für das aber nach der Investition in die Umgehung erst einmal kein Geld mehr da ist.

Wir als Journalisten berichten – zumindest bisher – oft erst einmal nur über die Gemeinderatssitzung. Das führt dazu, dass die politische Diskussion über das Projekt im Mittelpunkt der Berichterstattung steht: Was sagt der Bürgermeister, was die einzelnen Fraktionssprecher, welche Argumente bringt die Verwaltung vor? Die Fragen, die sich die oben genannten Bürgerinnen und Bürger aus ihrer persönlichen Perspektive heraus stellen, kommen dabei erst einmal nicht direkt vor. Diese Fragen aktiv aufzugreifen, zu recherchieren und zu beantworten, müssen wir als unseren Auftrag verstehen.

Dazu gehört auch, dass wir künftig noch öfter als bisher denjenigen einen Korb geben werden, die uns zur Berichterstattung über Themen einladen, die sie selbst gerne in der Zeitung platzieren möchten – zum Beispiel Lokalpolitiker, Unternehmer und Vertreter von Institutionen oder Verbänden. Denn die Zeitung machen wir nicht für diejenigen, über die berichtet wird, sondern für diejenigen, die sie lesen.

Hintergrund:

So läuft die "Lesewert"-Messung ab

  • Auswahl: Aus der Gesamtzahl der Abonnenten wird eine kleine, aber repräsentative Gruppe von Lesern ausgewählt und gebeten, bei der Messung mitzumachen.
  • Technik: Jeder Teilnehmer erhält einen Scanstift und installiert auf seinem Smartphone eine App, die sich mit dem Stift verbindet.
  • Messung: Bei der Zeitungslektüre markiert der Teilnehmer in jedem Artikel, den er liest, die Zeile, an der er die Lektüre beendet hat.
  • Auswertung: Die Daten werden an die Zentrale übermittelt und anonymisiert erfasst. Daraus errechnet das System für jeden Artikel einen Lesewert. Dieser besteht hochgerechnet aus der Anzahl der Leser, die den Artikel gelesen haben, und einer Prozentzahl die angibt, wie weit der Artikel im Durchschnitt durchgelesen wurde.
  • Coaching: Täglich geht der "Lesewert"-Coach mit der Redaktion die aktuelle Ausgabe durch, bespricht Auffälligkeiten in den Werten und gibt Tipps, wie die Zeitung besser auf die Anforderungen der Leser ausgerichtet werden kann. Die Redaktion setzt diese zeitnah um und misst an den Folgetagen den Erfolg.
 
 

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