Die äußeren Umstände für die Debatte um Hubert Aiwangers "Flugblatt-Affäre" sind nicht die besten. Der Zwischenausschuss des Landtags kommt im Senatssaal des Maximilianeums zusammen. 50 Abgeordnete, dazu Dutzende Bedienstete des Landtagsamtes, Journalisten und interessierte Besucher - der Saal ist proppevoll. Wegen Umbauarbeiten im Haus läuft aber die Klimaanlage nicht. Es könnte eine hitzige Sitzung werden, warnt Tagungsleiter Thomas Kreuzer (CSU) und meint damit nicht nur die Raumtemperatur. Seine Befürchtung ist aber unbegründet. Denn die Debatte wird von allen Seiten in getragener Ernsthaftigkeit geführt.
Womöglich liegt das auch daran, dass die Hauptbetroffenen beschlossen haben zu schweigen. Hubert Aiwanger (Freie Wähler) sitzt während der zwei Stunden mit durchgedrücktem Rücken auf der Regierungsbank. Er wirkt so, als ob er zum Rapport beim Schuldirektor erschienen wäre - wie damals 1988, als bei dem damals 16-Jährigen das schlimme Neonazi-Flugblatt in der Schultasche gefunden wurde. Ministerpräsident Markus Söder (CSU) lümmelt dagegen eher entspannt wie der Klassen-Coole in der letzten Schulbank. Er hat seinen Job gemacht, und irgendwie wird die Zeit schon rumgehen.
Söder kann sich die Gelassenheit leisten, weil er weiß, dass die Anträge von Grünen, SPD und FDP scheitern werden, ihn und Aiwanger vor aller Öffentlichkeit ins Kreuzverhör zu nehmen. Nach den dürren Erklärungen Aiwangers und dem Festhalten Söders an seinem Stellvertreter seien noch viele Fragen offen, begründen sie ihr Ansinnen. Grünen-Fraktionschef Ludwig Hartmann stellt fünf Minuten lang eine nach der anderen. Er erntet nur Schweigen. Diese Reaktion sei einer bayerischen Regierung unwürdig und mit Blick auf die deutsche Geschichte untragbar, urteilt Hartmann. Seine Kollegin Katharina Schulze wird später sagen, die fortdauernde Unklarheit sei "schmerzhaft" für die in dem Pamphlet verhöhnten Opfer des Holocaust. "Schon allein der Anschein von Antisemitismus in der Staatsregierung schadet dem Ansehen Bayerns", betont Schulze.
Zweifel an Aiwangers Version
SPD-Fraktionschef Florian von Brunn bezweifelt die Version Aiwangers, wonach nicht er, sondern sein Bruder der Verfasser des Machwerks gewesen sei. Indizien für die damals antisemitische Haltung Aiwangers findet von Brunn in Äußerungen ehemaliger Klassenkameraden. Statt sich zu bekennen, habe sich Aiwanger zum Opfer einer Kampagne stilisiert. Zudem agiere er immer wieder rechtspopulistisch und bereite damit den "Feinden der Demokratie den Boden". Er sei daher für das Bekleiden eines Ministeramtes ungeeignet, erklärt von Brunn.
Martin Hagen (FDP) attestiert Aiwanger, als Jugendlicher "offenbar ideologisch auf die ganz schiefe Bahn geraten" zu sein. Wie jeder andere habe er das Recht, sich zu ändern. Entscheidend sei der richtige Umgang mit den Vorfällen heute. Und da beweise Aiwanger einen "Mangel an Sensibilität". Ein antisemitische Flugblatt sei eben "keine eingeschossene Fensterscheibe", zieht Hagen einen Vergleich. Weil Aiwanger auch an diesem Tag nichts zur weiteren Aufklärung beiträgt, schließt sich die FDP dem Antrag von Grünen und SPD auf Entlassung Aiwangers an.
Reiß: Zurückhaltung "irritierend"
Den lehnt die CSU zwar ab, ihr Fraktionsvize Tobias Reiß macht aber deutlich, dass Gründe dafür nur die bisher nicht widerlegte Beteuerung Aiwangers sei, nicht Autor des Flugblattes zu sein, und seine - wenn auch späte - Entschuldigung. Reiß erinnert daran, wie er 1988 als Abiturient in Wunsiedel gegen die damaligen Neonazi-Aufmärsche demonstriert habe. "In dieser Zeit wurde im Hause Aiwanger ein widerwärtiges und zutiefst menschenverachtendes Pamphlet erstellt", setzt Reiß als Kontrapunkt. Es lasse ihn nicht kalt, wenn heute darüber diskutiert werden müsse, ob ein Mitglied der Staatsregierung in seiner Jugendzeit eine antisemitische Gesinnung gehabt habe.
Die schwerwiegenden Vorwürfe gegen Aiwanger seien geeignet, das Ansehen Bayerns zu schädigen, stellt Reiß fest. Auch Aiwangers Glaubwürdigkeit habe Schaden genommen, vor allem durch dessen Umgang mit den Vorwürfen. Aiwangers Zurückhaltung sei für viele in der CSU "irritierend" gewesen, man hätte sich schnellere Aufklärung gewünscht. Dann wendet sich Reiß direkt an Aiwanger: "Aufrecht, mutig und direkt heraus sein, darf man nicht nur im Bierzelt." Es sei jetzt an Aiwanger, Vertrauen wiederherzustellen und "deutlich zu machen, dass seine Aktionen demokratisch und rechtlich gefestigt sind".
Vorbehaltlos hinter Aiwanger stellt sich Florian Streibl. Der Chef der Freien Wähler im Landtag erklärt, Aiwanger habe glaubhaft versichert, das Flugblatt nicht verfasst zu haben, er habe sich von dessen Inhalt "maximal distanziert". "Der 16-Jährige, der heute durch die Gazetten gezerrt wird, ist nicht der Hubert Aiwanger von heute", sagt Streibl. Aiwanger sei "kein Antisemit". Von allen Vorwürfen sei nur belegt, dass er damals das Flugblatt in der Schultasche gehabt habe. Das rechtfertige aber keine Entlassung. Rückendeckung bekommt Aiwanger auch von der AfD. Deren Fraktionschef Ulrich Singer spricht von einem "politischen Schmierentheater", das SPD und Grüne gemeinsam mit ihnen vermeintlich verbundenen Medien inszeniert hätten.















Aiwanger und die Freien Wähler sehen sich in der Flugblattaffäre weiter als Opfer einer Kampagne. Es gehe um „Politik für den normalen Menschen“, sagt Aiwanger. Oftmals geht es bei seiner Politik aber um handfeste Interessen einiger Weniger. Ohne Frage ist Aiwanger ein Scharfmacher, der die Gesellschaft spaltet, gegen „das Establishment“ hetzt und überall linke Ideologie wittert, obwohl er teilweise selbst hoch-ideologisches Vokabular der AfD übernimmt (aus: evangelisch.de). Auch im fraglichen Flugblatt sei „soviel Menschenverachtung und Zynismus enthalten wie man es nur selten findet. Und es ist in einer bösartigen Perfektion abgefasst, sowohl optisch als auch orthographisch, die bemerkenswert sei“ und daher eher gegen eine Kurzschlusshandlung des Aiwanger-Bruders spricht. Ministerpräsident Söder setzte jedoch trotz der andauernden und teils neuer Vorwürfe auf eine weitere Zusammenarbeit mit Aiwanger. Der Niederbayer und ehemalige CSU-Chef Erwin Hubert sieht unverkennbare Parallelen zwischen Aiwanger und Donald Trump. Beide haben Skandale zuletzt nicht geschadet, sondern sogar genutzt. Denn beide betreiben gekonnt den Rollentausch als Machttechnik und scheuen sich nicht vor Lügen und Täuschung. Beide werden von ihren Anhängern verehrt wie Propheten. Selbst Landräte, Bürgermeister und Kommunalpolitiker , die sonst gerne die Angriffe auf Kommunalpolitiker (zurecht) anprangern, erkennen leider die toxische Wirkung der Verächtlichmachung der Regierenden und persönliche Herabwürdigung von Vertretern des Staates nicht, oder dulden diese aus politischen Gründen.
Aiwanger suggeriert in den Bierzelten weiter wahrheitswidrig, dass künftig das Heizen mit Holz verboten sei, und die Bundesregierung die Tierhaltung einschränken wolle. Im Weißbierstadl von Abendsberg erzählt Aiwanger von einem jungen Metzger, der wegen der Ampelparteien keine Zukunft mehr in Bayern sehe und nun nach Kanada auswandern wolle. Gibt es den auswanderungswilligen Metzger wirklich und ist die Schilderung glaubwürdig? Als Metzger wäre er eine gesuchte Fachkraft in Bayern und ganz Deutschland. Das Berufsbild galt aber schon lange vor der „Ampel“ als unattraktiv und schlecht bezahlt. Welche Rolle spielt die Industrialisierung der Fleischerzeugung und Fleischverarbeitung? Was hat Aiwanger dem jungen Mann anzubieten, die geforderte Abschaffung der Vermögens- und Erbschaftssteuer? Sicher sehr hilfreich für einen jungen Facharbeiter! Der stellvertretende bayerische Ministerpräsident brachte auf dem 2. Alpengipfel wie immer zum Ausdruck, was er von der aktuellen EU-Agrarpolitik hält: „Wir sehen eine dauernde Abwehrschlacht der Vernünftigen gegen die Ideologen“. Meint er mit „Ideologen“ Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU), den Kommissar für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung Czesław Wojciechowski, (ein polnischer Politiker der Bauernpartei „Recht und Gerechtigkeit“), oder die liberal-konservative Mehrheit im EU-Parlarment, die seit Jahrzehnten die EU-Agrarpolitik bestimmt?
Schlimmer noch, er redet als amtierender Wirtschaftsminister den Standort Deutschland permanent schlecht, statt wirklich taugliche Vorschläge zur Lösung der vorhandenen Probleme anzubieten. Das stete Prophezeien eines vermeintlichen Untergangs droht früher oder später eine sich selbst verstärkende Dynamik auszulösen, es sei höchste Zeit für einen Korrekturmechanismus, fordert der ehemalige Chefökonom der »Financial Times Deutschland«, Deutschland braucht die „Spaßbremsen-Bremse“.
Im August 2023 fordern 432 bayerische Bürgermeister von Söder und Aiwanger mehr Windkraftausbau, eine schallende Ohrfeige für die bisherige Energiepolitik von Aiwanger und der CSU!
Das Bild Bayerns in der Welt hat durch das Handeln Aiwangers nach der Flugblattaffäre einen verheerenden Schaden genommen, unverzeihlich, wie Reinhold Beckmann meint.
Sichtbarer Beweis: Der schrille Aiwanger wird von den Spitzenvertretern der deutschen Wirtschaft gemieden. Zum vom Wirtschaftsminister zur Automesse IAA am 7. September veranstalteten Staatsempfang hagelte es national und international Absagen aus der Wirtschaft. Das Festhalten am Populisten Aiwanger hat einen Preis, den Bayern und unsere Gesellschaft zahlen muss.
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