"Katzendreck": Wie ein lokales Ärgernis eine internationale Affäre wurde

München
13.04.2023 - 10:10 Uhr
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Vor bald 50 Jahren sorgte im Nordosten Bayerns der "Katzendreckgestank" für Aufregung. Ein Berliner Historiker zeigt nun auf, wie aus einem lokalen Ärgernis eine internationale Affäre im Kalten Krieg zwischen Ost und West wurde.

In den 70er und 80er stank es in der nordostbayerischen Grenzregion zwischen Hof und Waldsassen gewaltig. Die Deutschen nahmen es als "Katzendreckgestank" wahr. Dar Grund war allerdings die Braunkohleverbrennung in der CSSR und der DDR.

"Bei uns stinkt's und uns stinkt es!" Mit diesen Worten, vorgebracht bei der im Juni 1977 aus Wunsiedel ausgestrahlten Bürgersendung "Jetzt red i" des Bayerischen Fernsehens, erreichte der "Katzendreckgestank" im Nordosten Bayerns eine breite Öffentlichkeit. Seit gut einem halben Jahr stank es in der damaligen Zonenrand- und Grenzlandregion zwischen Hof und Waldsassen immer wieder aufdringlich wie nach den Exkrementen der Haustiere. Die waren aber schuldlos. Der Gestank wehte aus den Schornsteinen von Kraftwerken und Industrieanlagen hinter dem Eisernen Vorhang aus der DDR und der Tschechoslowakei (ČSSR) herüber. Die Ursache: Tonnenweise Schwefeldioxid vor allem aus der Braunkohleverbrennung.

Der Historiker Bodo Mrozek, Mitarbeiter am Berliner Kolleg Kalter Krieg des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ), hat die bis in die Zeit nach dem Fall der Mauer reichende "Katzendreck-Affäre" in einem Aufsatz für die Vierteljahresschrift des IfZ nachgezeichnet. Das zunächst nur lokal virulente Ärgernis erreichte im Laufe der Jahre höchste politische Kreise, sogar der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) war damit befasst. Die Sache war demnach mehr als nur eine kleine Fußnote im Kalten Krieg zwischen dem Westen und dem Ostblock.

Beschwerden aus Fuchsmühl

Der Begriff "Katzendreckgestank" geht nach den Recherchen Mrozeks auf einen Hotelier aus Fuchsmühl im Landkreis Tirschenreuth zurück, der über die üblen Gerüche Beschwerde geführt hatte. Das örtliche Problem wuchs sich zur "internationalen Affäre" aus, schreibt Mrozek. "Mehr als zehn Jahre lang beschäftigte der Gestank Ämter, Lokalpolitik, Medien, Wissenschaft, Ministerien, Parlamente, die Diplomatie und schließlich auch Staatsoberhäupter." Mrozek hat für seine Arbeit Behördenarchive und Presseberichte durchforstet – auch dieser Zeitung. Seine Prager Co-Autorin Doubravka Olšáková hat dazu in tschechischen Archiven geforscht.

Den ersten Eintrag in Bayern fand Mrozek datiert auf den 10. Oktober 1976 in den Akten der Grenzpolizeistation Selb. Aber der Gestank, der Übelkeit, Kopfschmerzen und psychische Erkrankungen auslöste, war auch in der DDR und ČSSR bekannt. Nur wurde das Problem dort von den kommunistischen Regierungen zum "Staatsgeheimnis" erklärt. Mrozek berichtet von Beschwerden aus Sachsen an das Ost-Berliner Gesundheitsministerium, die dort allerdings eher abgeheftet als weiterverfolgt wurden, und von Schilderungen von aus der ČSSR geflüchteter Menschen. Zudem ist er auf Geheimdienstrecherchen des Bundesnachrichtendienstes gestoßen, die wegen der Luftverschmutzung in Nordböhmen massive Umweltschäden, Ausgangssperren, erhöhte Krebsraten und eine hohe Zahl an Risikoschwangerschaften auflisten.

Für Waldsterben verantwortlich

In Bayern liefen die Untersuchungen des Phänomens erst 1978 richtig an. In einer Messreihe ließ das Bundesinnenministerium "Duftmoleküle in der Luft" ermitteln. Das bayerische Landesamt für Umwelt sammelte im Tröstauer Talgrund bei Wunsiedel "geruchsbelästigende Stoffe". Ermittelt wurde letztlich eine toxische Mixtur aus Schwefeldioxid, Schwefelkohlenstoff und Kohlenoxidsulfid, die nicht nur Nasen reizte und – wie spätere Studien des Münchner Uniklinikums "Rechts der Isar" ergaben – die Gesundheit gefährdete, sondern auch als Ursache für das parallel einsetzende Waldsterben verantwortlich gemacht wurde.

Politisch begann die von Mrozek so bezeichnete "Geruchsdiplomatie" im März 1978, als der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) den "Katzendreckgestank" bei einer Prag-Visite dem ČSSR-Staatspräsidenten Gustav Husák verbal unter die Nase rieb. Es folgten zahlreiche Bemühungen auf Beamten- und Diplomatenebene, aber die sture Leugnung der ČSSR-Führung und die Sondersituation des Kalten Krieges machten Erfolge schwierig. Die ČSSR wies noch 1979 offiziell alle Vorwürfe zurück, Verursacher des Gestanks zu sein. Sie bezeichnete sich sogar selbst als Opfer von Schadstoffeinträgen aus dem Westen. Konkret benannte sie hohe Quecksilberkonzentrationen in der Eger, die – wie sich später offenbarte – aus der damaligen Chemischen Fabrik Marktredwitz stammten.

Kanzler Kohl bot Hilfe an

Bewegung kam in die Gespräche erst, als 1982 eine gemeinsame Grenzkommission eingerichtet wurde, bei der neben Fragen zum Grenzverlauf auch der "Katzendreckgestank" ein Thema wurde. Zu diesem Zeitpunkt räumte die ČSSR ein, Umweltprobleme zu haben – offenbar in der Hoffnung, diese mit westlicher Finanzhilfe lösen zu können. Mrozek verweist hier auf die Warnungen westdeutscher Diplomaten, bei den Gesprächen vor diesem Hintergrund Vorsicht walten zu lassen. Später nutzte die ČSSR den Gestank sogar als Druckmittel, um internationale Verträge in eine für sie vorteilhafte Richtung lenken zu können. Eine ähnliche Strategie verfolgte auch die DDR, wo die Papierfabrik in Blankenstein an der Saale im Fokus stand.

Beim dritten Treffen der Grenzkommission im November 1983 in Prag – inzwischen hatte sich auch der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß (CSU) unter Umgehung der offiziellen diplomatischen Kanäle eingeschaltet – gab es erste Ergebnisse. Bis 1985 sollten die nordböhmischen Industrie- und Kraftwerksanlagen teilweise mit Entschwefelungsanlagen ausgerüstet werden, für die Grenzregion wurde ein Smogalarmplan vereinbart. 1984 bot Kanzler Kohl der ČSSR "technisches Know-How" an und drängte auf eine Lösung des Katzendreck-Problems. Es bestehe sonst die Gefahr eines "Übergreifens des ökologischen Zusammenbruchs auf unser Gebiet".

Mrozek erkennt in Kohls Eingreifen eine Reaktion auf den inzwischen massiven Druck von Bürgerinitiativen und Kommunalpolitikern aus Nordostbayern sowie den 1983 erfolgten Einzug der Grünen in den Bundestag. "Die Quellen zeigen, dass hier erst auf Initiative von unten ein Problem zum Thema wurde, mit dem das politisch-diplomatische Spitzenpersonal in drei Staaten intensiv beschäftigt war", schreibt Mrozek. Historisch gesehen stehe der "Katzendreckgestank" in einer Linie mit "olfaktorischen Konflikten" älterer Epochen, insbesondere während der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. "Erst anhaltender Druck aus der Zivilgesellschaft führte zu konkreten Maßnahmen der Desodorierung", fasst Mrozek zusammen.

München13.04.2023
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