Die Kollegin, die den Prozess im Gerichtssaal verfolgte und darüber schrieb, ist eine erfahrene Redakteurin, das gleich vorweg. Sie berichtete über die Verhandlung gegen einen 51-Jährigen aus dem Landkreis Tirschenreuth, den ein Schöffengericht letztlich für zweieinhalb Jahre ins Gefängnis schickte. Das Urteil war die Strafe für die versuchte Vergewaltigung einer 18-Jährigen.
Die junge Frau, deren Freund und eine gemeinsame Freundin, die den Angeklagten schon länger kannte, hatten nach einem Fest bei dem Mann übernachtet. Gegen 2.30 Uhr schlich sich der Wohnungsinhaber ins Schlafzimmer. Was dann passierte, las sich in der Zeitung und im Onetz so: „Er streichelte die 18-Jährige am Po, zog ihren Slip herunter und führte einen Finger ein.“ Weiter stand in dem Text: „Im gynäkologischen Bericht waren zwar keine äußeren Verletzungen der 18-Jährigen vermerkt, aber von einem wiederholt anal und vaginal eingeführten Finger war die Rede.“ Der Täter, so wurde vor Gericht deutlich, hatte wohl gedacht, dass die Frau schlafe. Das Opfer war so erschrocken, dass es in einer Art Schockstarre verharrte.
"Mir wurde übel dabei"
Sie sei beileibe nicht prüde, schickte eine jahrzehntelange Leserin aus dem Raum Tirschenreuth voraus, als sie mich wegen der Berichterstattung anrief. Aber solche Beschreibungen gingen ihr dann doch zu sehr ins Detail. "Mir wurde da direkt übel dabei", schilderte die Frau ihre Reaktion beim Lesen dieser Textpassagen. Der Artikel habe sie "peinlich berührt", aber auch ziemlich geärgert: "So wütend und aufgebracht war ich selten."
Auch für mich stellt sich die Frage, ob es tatsächlich notwendig ist, über solche Einzelheiten der vom Angeklagten vorgenommenen sexuellen Handlungen zu berichten? Braucht es so eine detaillierte Schilderung zum Verständnis der Vorwürfe? Gehören die Details dieser versuchten Vergewaltigung wirklich in die Öffentlichkeit? Was macht der Bericht unter Umständen mit dem Opfer, welche Auswirkungen hat er da womöglich? Zumal die 18-Jährige vor Gericht nicht aussagen musste, weil der 51-Jährige geständig war.
Wie würde man sich selbst fühlen?
Unterm Strich tendiere ich zu der Meinung, dass es wohl besser gewesen wäre, auf diese detaillierte Beschreibung der Tat zu verzichten, vor allem wegen des Opferschutzes. Dabei beschäftigt mich auch der Gedanke: Würde der Verfasser beziehungsweise die Verfasserin eines sehr ins Detail gehenden Artikels zu einer versuchten Vergewaltigung so etwas in der Zeitung lesen wollen, wenn es ihn beziehungsweise sie selbst als Opfer beträfe?
Wenn man den Fall allerdings im Kollegenkreis diskutieren würde, könnte ich mir durchaus vorstellen, dass auch das Argument käme, Details dieser Art dürften eigentlich nicht weggelassen werden, da sie die Schwere der Tat deutlich machen. Eine Redaktion kann diese Art von Berichterstattung wählen, wenn sie glaubt, dass die Begrifflichkeiten Vergewaltigung beziehungsweise versuchte Vergewaltigung nicht mehr ausreichen, um die Dramatik der Situation und die Verletzungen körperlicher und psychischer Natur für den Leser nachvollziehbar zu machen. Es kann also durchaus Ziel eines Artikels sein, aufzuzeigen, welches Martyrium Vergewaltigungsopfer erleiden müssen. Doch bleibt eine detaillierte Beschreibung der Tat und damit der Qualen des Opfers immer grenzwertig.
Hilfreich bei der Beurteilung einer Berichterstattung ist ein Blick in den Pressekodex, der die ethischen Leitplanken für die journalistische Arbeit definiert, die jedoch - und das ist ein nicht unbedeutender Aspekt - keine rechtliche Wirkung haben.
Das steht im Pressekodex
Speziell spielt hier die Ziffer 11 (Sensationsberichterstattung, Jugendschutz) eine Rolle. Nach ihr hat die Presse "auf eine unangemessen sensationelle Darstellung von Gewalt, Brutalität und Leid" zu verzichten und den Jugendschutz zu beachten. Unangemessen sensationell sei eine Darstellung, "wenn in der Berichterstattung der Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, herabgewürdigt wird". Das, so möchte ich an dieser Stelle betonen, trifft auf den von der Leserin kritisierten Gerichtsbericht allerdings nicht zu.
Stets zu beachten ist: Eine Berichterstattung findet laut Pressekodex "ihre Grenze im Respekt vor dem Leid von Opfern und den Gefühlen von Angehörigen". Betroffene "dürfen grundsätzlich durch die Darstellung nicht ein zweites Mal zu Opfern werden".
Das sagt die Autorin
Redakteurin Michaela Kraus, von der der Gerichtsartikel stammt, ist der Hinweis wichtig, "dass gerade die Frauen in der Redaktion die Darstellung im Bericht nicht anstößig fanden". Die Kollegin nimmt wie folgt Stellung: "Nichts lag uns ferner, als das Opfer durch die Berichterstattung ein zweites Mal zum Opfer zu machen. Wir haben bewusst außer dem Alter der Geschädigten keine identifizierenden Details genannt. Aber um eine Straftat einzuordnen, sind mitunter auch klar formulierte Einzelheiten nötig. Denn die strafrechtliche Bandbreite ist vom sexuellen Übergriff über sexuelle Nötigung bis zur Vergewaltigung sehr groß. Die näheren Umstände der Tat gehören da schon ausgeleuchtet in einer öffentlichen Verhandlung. Dazu gehören auch die Wiedergabe von Begriffen aus der Anklage und dem Urteil, aus dem gynäkologischen Gutachten und Zeugenaussagen. Dass die Schilderung manchen Leser und manche Leserin peinlich berührt, ist ebenso verständlich. Aber: Nicht das Opfer muss sich schämen. Der Täter hat allen Grund dazu. Schockierende und gar nicht so seltene Übergriffe auf Frauen gehören benannt. Über die Wortwahl lässt sich im Einzelfall streiten."
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