Am Donnerstag, 16. Mai (19.30 Uhr), ist Radka Denemarková mit Moderator Thomas Geiger (Literarisches Colloqium Berlin) im "Capitol" (Bayreuther Straße 4,) zu Gast. Die Kulturredaktion hat sie auf Lesetour in Salzburg erreicht:
ONETZ: Frau Denemarková, Ihr neuer Roman thematisiert schonungslos sexuelle Gewalt gegen Frauen vom Zweiten Weltkrieg bis heute. Was hat bei Ihnen überwogen – der Schmerz oder die Wut?
Radka Denemarková: : Der Schmerz. Ich habe mich immer Tabuthemen zugewandt. Es gab einen Auslöser für dieses Buch: das Wort „nur“. Ich hatte eine Lesung vor vielen Jahren in Deutschland mit „Ein herrliches Fleckchen Erde“. Im Publikum war ein älterer Mann, der erzählte, er stamme aus einer Familie von Vertriebenen. Er hat immer wieder gefragt, wann endlich alle Deutschen entschädigt würden. Und ich antwortete ihm, ich sei Schriftstellerin, das müsse er die Politiker fragen. Und dann habe ich ganz spontan gesagt: Mich interessiert, wann endlich alle Frauen entschädigt werden, die damals vergewaltigt wurden, von Soldaten aller Armeen. Und er sagte: Ja, aber sie wurden nur vergewaltigt. Und ich habe dieses Wort „nur“ mit nach Hause genommen wie ein Messer im Rücken. Nur? Okay, dann öffnen wir das Thema, öffnen es endlich von allen Perspektiven.
ONETZ: Und was stand beim Schreiben im Vordergund?
Beim Schreiben des Buches haben mich vor allem zwei Fragen bewegt: Wann hat es angefangen, dass Frauen als Menschen zweiter Klasse behandelt wurden und ab wann haben sich in den Nationen die verschiedenen Mentalitäten entwickelt. Durch Europa strömte eine Menge geschädigter Frauen und Männer, welche schwiegen. Und diese Realität und diese Benennung würden dem Krieg und den Verbrechen ein anderes Ausmaß geben.
ONETZ: Und gar keine Wut?
Das Problem des zwanzigsten Jahrhunderts ist das Problem der Opfer. Die Illusion, dass das Unglück den Menschen vermenschlicht, zerbricht definitiv. Und dann kam auch Wut. Das Wort Feminismus hat in Osteuropa sehr negative Konnotationen. Aber mich interessieren die Menschenrechte für alle, also auch für die Frauen. Wenn ich für die Frauen spreche, muss ich Worte wählen, die die Männer verstehen, also etwa sagen, dass es mir sehr leidtut, dass wir das ökonomische und kreative Potenzial der Hälfte der Menschheit nicht ausnutzen, weil wir bis heute Frauen als Menschen der zweiten Kategorie sehen.
ONETZ: Gibt es dabei etwas, das Sie besonders schmerzt?
Mich schmerzt besonders, dass die Frauen in Tschechien so reagieren, als ob das etwas wäre, das nichts mit uns zu tun hat. Ich muss mich immer streiten bei den Diskussionen, weil die Frauen sagen: Aber ich mag es, wenn mir ein Mann in den Mantel hilft oder an der Tür den Vortritt lässt. Und ich sage dann: Das mag ich auch! Aber nicht nur in ganz Osteuropa stecken die patriarchalischen Muster tief unter der Haut, bei den Männern wie den Frauen.
ONETZ: Vor wenigen Wochen hat der UN-Sicherheitsrat eine offizielle Resolution gegen sexuelle Gewalt verabschiedet. Macht Ihnen das Hoffnung?
Ja. Im Buch geht es um sexualisierte Gewalt gegen Frauen. Aber das Buch ist ja schon 2014 in Tschechien erschienen, lange vor MeToo usw.. Und erst jetzt im 21. Jahrhundert haben wir die Hoffnung, dass diese Art von Sklaverei endet. Und es ärgert mich, dass Männer jetzt Frauenthemen aufnehmen, denn zu Hause sind sie immer noch Machos. Die Menschenrechte fangen in der Küche an.
ONETZ: Ihren drei weiblichen Protagonistinnen steht ein Mann, der Ermittler, gegenüber: Ein umgekehrtes Spiegelbild für die immer noch vorherrschende Machtverteilung in unserer Gesellschaft?
Der Ermittler hat ein gutes Herz. Mit ihm entdecken wir die Welt der Kriminalfälle, wo die Opfer machtlos sind. Ich sehe es als Aufgabe einer Schriftstellerin, sich Tabuthemen, schwierigen Themen zu nähern, es hat sich in meinem Leben so ergeben. Ich beabsichtige keine bloße Rekonstruktion exakter historischer Vorgänge, vielmehr verdeutliche ich uns allgemeingültige Dimensionen menschlicher Abgründe. Der Roman geht wie “Kobold” oder “Ein herrlicher Flecken Erde” der Frage nach, ob die Wahrheit den Menschen zumutbar ist, und sprengt dabei die gängige Täter - und Opfer – Polarität. Viele Themen haben mich gewählt. Ich bin offen für das Leben, für Opfer, die keine Stimme haben. Das ist eine große Verantwortung.
ONETZ: Ihr Roman ist also kein gewöhnlicher Kriminalroman?
Das Buch dreht sich um die Themen Nationalismus und sexualisierte Gewalt. Ich bin davon überzeugt, dass Nationalismus und sexualisierte Gewalt zusammengehören. Denken Sie nur an die Massenvergewaltigungen in den Balkankriegen der 90er Jahre, um nur ein Beispiel zu nennen. Erzwungener Sex ist ein Verbrechen und Mord an der Seele der Vergewaltigten. Insofern steht jede eine einzelne Vergewaltigung auch metaphorisch für das 20. Jahrhundert – einem Jahrhundert voller Vergewaltigungen einzelner aber auch ganzer Staatengemeinschaften. Diese individuellen wie kollektiven Erfahrungen prägen uns alle bis heute. Deshalb stehen im Buch drei starke Frauen im Mittelpunkt, die sich gegen Nationalismus und sexualisierte Gewalt wehren. Da sie die Gesetze nicht zu ihrem Schutz ändern können, finden sie ihren eigenen Weg, sich zu verteidigen.
ONETZ: Schwalben spielen im Roman ebenfalls eine zentrale Rolle: Was assoziieren Sie mit diesen Vögeln?
Über allem schweben als metaphorische Ebene Schwalben, die Begriffe wie Nation, Glaube oder Gewalt nicht kennen und die Welt von oben betrachtet nicht verstehen. Die Schwalben sprechen nur in ihren Bewegungen, und sagen, dass keine Grenzen existieren. Es existieren keine Staaten und es existieren keine Nationalitäten und es existieren keine Religionen und es existieren keine übergeordneten Geschlechter. Sprachen existieren nicht. Nur die Körpersprache existiert. Die Schwalben fliegen, ihre Weisheit erwächst lediglich aus den tiefen Zweifeln, und solange sie leben, bleiben sie ihrer Art treu. Die Schwalbe ist auch Symbol der Hoffnung, des Frühlings. Die Schwalben sind in der slawischen Mythologie die Seelen der toten Frauen.
ONETZ: Zum Ende des Buches setzen Sie sich auch mit dem ehemaligen Staatspräsidenten Edvard Beneš auseinander. Wie passt er ins Bild?
Über Beneš sagt man auch bis heute nicht die Wahrheit. Es scheint mir immer noch, dass Beneš wichtiger ist als Masaryk und Havel, um Böhmen zu verstehen. Alles ist mit allem verbunden. Aus diesem Grund ist der letzte Teil, die Perspektive von Edvard Beneš, wichtig. Im Allgemeinen handelt es sich um die Perspektive eines reichen, gebildeten weißen Europäers, der seit Jahrhunderten über den Rest der Welt erhoben wurde und auch Gedanken an Eugenik waren ihm nicht fremd. Dieser sogenannte intelligente Teil der Gesellschaft hatte zu Beginn des letzten Jahrhunderts eine Lösung für alle Probleme gefunden, wollte die Menschheit kultivieren und Maßnahmen durchsetzen, um "geistig defekte" Menschen und Nationen beiseite zu setzen. Natürlich hat niemand nach dem Zweiten Weltkrieg davon gesprochen. Alles beginnt irgendwo, oft unauffällig. Das 19. Jahrhundert hat uns mit den gefährlichen Begriffen wie Patriotismus und Nationalstolz gejätet. Im zwanzigsten Jahrhundert waren sie dann im bestimmten Sinne alle Hitlers Armee, infiziert mit der Pest, mit der wir heute noch kämpfen.
ONETZ: Und aus Ihrer Sicht als prominente Vertreterin der tschechischen Literaturszene: Hatte der Auftritt als Gastland bei der Leipziger Buchmesse spürbare Auswirkungen ?
Ich weiss nicht. Es gibt nur die Literatur. Ich mag die nationalistischen Schubladen nicht. Aber es war für mich persönlich wichtig, in Leipzig die Gelegenheit zu nutzen, die Aufmerksamkeit auf die vielschichtige tschechische Kultur der letzten 100 Jahre zu lenken. Natürlich sollten wir dabei auch den Blick auf den „Prager Frühling“ 1968 oder die „Charta 77“ 1977 lenken. Beide Ereignisse waren nicht nur für uns in Tschechien, sondern für ganz Europa Meilensteine auf dem Weg zu einem offenen, demokratischen Europa. Wir spielen heute um alles, darum, ob wir eine geschlossene Gesellschaft haben werden oder eine Demokratie, ob Zensur oder freie Kreativität. Jetzt gibt es nur ökonomischen Pragmatismus, Orientierung auf Konsum. Es war ein Fehler, dass die osteuropäischen Länder so schnell in die EU eintreten konnten. Ökonomisch funktioniert es, aber nicht, was die Mentalität angeht. Die stammt noch aus der totalitären Gesellschaft, das ändert sich nicht so schnell.
Service
Karten, Reservierungen und Informationen unter Telefon 09661/ 8159590 oder info[at]literaturarchiv[dot]de. Die Lesung mit Radka Denemerková ist ein Beitrag des Literaturhauses Oberpfalz zum Tschechischen Kulturjahr 2019.
Der Roman "Ein Beitrag zur Geschichte der Freude", 336 Seiten,übersetzt von Eva Profousová, ist bei Hoffmann und Campe erschienen und kostet 24 Euro, als E-Book 19,99 Euro.
Zur Person
Die promovierte Germanistin und Bohemistin Radka Denemerková arbeitet auch als Dramatikerin, Drehbuchautorin, Essayistin, Übersetzerin und lehrt kreatives Schreiben. Mit dem "Magnesia Litera Preis" wurde sie bereits in drei Kategorien (Prosa, Sachbuch, Übersetzung) ausgezeichnet, 2017 bis 2018 war Stadtschreiberin von Graz. Ihr Werke wurden in rund 20 Sprachen übersetzt.
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