Amberg
24.11.2023 - 10:03 Uhr

35 Jahre SkF-Notruf für Frauen: aus Amberger Modellprojekt wird Institution

Ein kleines Jubiläum feiert der Amberger Sozialdienst katholischer Frauen am heutigen „Tag gegen Gewalt gegen Frauen“: Vor 35 Jahren wurde die Notruf-Nummer 22200 freigeschaltet. Der erste Meilenstein, auf den andere folgen sollten.

Julia Möbus (links) und Marianna Neugirg lesen den ersten Bericht über die Entstehung des Notrufs vor 35 Jahren in den Amberger Stadtnachrichten. Der Notruf 22200 wurde elf Jahre nach einer Gesetzesänderung eingeführt, die es Frauen in Westdeutschland erlaubte, berufstätig zu sein, wenn das “mit ihren Pflichten in Ehe und Familie" zu vereinbaren war. Bild: Dagmar Williamson
Julia Möbus (links) und Marianna Neugirg lesen den ersten Bericht über die Entstehung des Notrufs vor 35 Jahren in den Amberger Stadtnachrichten. Der Notruf 22200 wurde elf Jahre nach einer Gesetzesänderung eingeführt, die es Frauen in Westdeutschland erlaubte, berufstätig zu sein, wenn das “mit ihren Pflichten in Ehe und Familie" zu vereinbaren war.

Als Anfang 2023 eine zweifache Mutter zum ersten Mal die bundesweite Notruf-Nummer wählte und dann nach Amberg vermittelt wurde, konnte sie nicht ahnen, wie sich ihr Leben und das ihrer Kinder zum Besseren verändern würde. Mitte 30, verheiratet und finanziell abhängig von ihrem Gatten, suchte sie vorerst ein Gespräch. Sie erzählte von Situationen, die auf psychische Manipulation, Erniedrigungen und Unterdrückung seitens des Mannes schließen ließen. Eine Bestätigung für sie, dass sie sich nichts einbildete. Sie stellte Fragen zum Ablauf einer Trennung in Deutschland und Umgang der Kinder. Mehrere Wochen vergingen bis diese verzweifelte Frau nochmals den Notruf 22200 rief. Hier stellte sich heraus, dass ihr Mann sie auch körperlich angriff, um seinen Willen erzwingen zu können. Die Mitarbeiterinnen handelten schnell und boten ihr die Möglichkeit, sie bei allen Amtsgängen zu begleiten. Als sie am nächsten Tag im Büro des Sozialdiensts katholischer Frauen (SkF) in Amberg saß, um einen anwaltschaftlichen Beratungsschein auszufüllen, stand plötzlich der erboste und wütende Ehemann vor der Tür des Frauenhauses. Die Polizei wurde gerufen. Es stellte sich heraus, dass er ohne ihr Wissen die Handy-Ortung nutzte, um sie zu stalken. Das ist nur eines von vielen Beispielen für die tägliche Arbeit der Mitarbeiterinnen des Sozialdienstes katholischer Frauen.

„Aber auch nach der Trennung versuchen gewaltbereite Männer noch immer die Kontrolle über Kinder und Frau zu behalten“, erklärte Sozialpädagogin Julia Möbus im Gespräch mit Oberpfalz-Medien. Diese Kontrolle verlagere sich durch den Versuch, Umgang mit den Kindern per Familiengericht zu erzwingen. Um hier entgegenzuwirken, erließ der Europarat 2011 in Istanbul ein völkerrechtliches Abkommen, die sogenannte Istanbul-Konvention, heißt es. Die Konvention verpflichtet die Vertragsstaaten zur umfassenden Bekämpfung und Verhütung von Gewalt. Möbus: "Eine Expertengruppe des Europarats kam im vergangenen Jahr jedoch zu dem Ergebnis, dass es bei der Umsetzung in Deutschland noch zahlreiche Lücken gibt, um Frauen und Kinder wirksam vor Gewalt zu schützen und nach der Trennung präventiv zu agieren." Der Grevio-Bericht kritisiert eine fehlende langfristige Strategie, ebenso wie eine nationale Koordinierungsstelle für entsprechende Maßnahmen.

Ein Problem unter vielen sei die Eigenständigkeit von Richtern in Deutschland. "Diese sind nicht zur Fortbildung verpflichtet und urteilen nicht selten nach veralteten Begründungen und Strukturen", heißt es vom SkF. Bereits vor der Pandemie versuchte SkF-Leiterin Andrea Graf eine Änderung herbeizuführen. Vergangene Woche klappte ihre Idee erstmals und führte zu einem weiteren Meilenstein: Der Runde Tisch. Weißer Ring, Fachstelle für sexualisierte Gewalt, Polizei, Kriminalpolizei, Anwälte des Strafrechts, Staatsanwälte, Jugendamt, Täterberatungsstelle, Ordnungsamt, Medbo, Sachbearbeiter der Stadt und Familienrichter setzten sich zusammen, um über bestehende Probleme zu sprechen. „Das Ziel ist, dass alle involvierten Stellen ihre Handlungsweisen erklären, Probleme bei der Bearbeitung darstellen und erfolgsversprechende Lösungen gemeinsam erörtern, um zukünftig möglichst schnell und präventiv handeln zu können“, erklärte Sozialpädagogin Marianna Neugirg im Gespräch. Demnach soll ein Interventionsplan nach dem Münchener Modell erarbeitet werden.

Fachstelle sexualisierte Gewalt

Durch die Fachstelle sexualisierte Gewalt, erzählte Neugirg als Expertin in diesem Bereich, seien auch hier die Meldungen gestiegen. "Der Bedarf an Unterstützung ist immens." Die Hemmschwelle für Gewaltbereitschaft sei seit der Pandemie extrem gesunken, so Möbus weiter. Seither erreichen die beiden Sozialpädagoginnen immer mehr E-Mails zur Erstberatung. „Es gibt Betroffenen die Möglichkeit, anonym zu bleiben und erstmals Vertrauen aufzubauen“, erklärten sie. Denn viel zu oft werden Opfer von Gewalt und Vergewaltigung nicht ernst genommen – weder von ihrem Umfeld, noch von Behörden. Das liege vor allem an Missverständnissen und fehlender Kenntnis seitens Institutionen. „Ein Opfer, das psychische, physische oder sexualisierte Gewalt erlebte, verhält sich eben durch das Trauma nicht wie ein Täter, der immer die Oberhand hatte.“

Fatale Unterstellung

Ein Rache-Akt oder eine Erfindung der Gewalt seitens der Opfer sei dabei eine fatale Unterstellung. Eine repräsentative Statistik zu Falschbeschuldigungen gibt es nicht. Denn alle Fälle, die von der Staatsanwaltschaft aus Mangel an Beweisen eingestellt werden, würden hier mit einbezogen werden. Das sind 45 Prozent. Neben den bereits genannten Arten der Gewalt zählen auch verbale und sozioökonomische Gewalt, Vernachlässigung und Stalking. In Bayern flüchten jedes Jahr mehr als 2.000 Frauen mit ihren Kindern in ein Frauenhaus. Etwa 70 Prozent der Frauenhausbewohnerinnen starten mit der Unterstützung des Frauenhauses ein neues gewaltfreies Leben. Eine Frau braucht etwa sieben Anläufe bevor sie sich endgültig von einem gewalttätigen Mann trennt, heißt es.

Aus einem Modellprojekt vor 35 Jahren wurde aufgrund der absoluten Notwendigkeit eine bestehende Institution in Amberg. „Ohne unsere ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen, die je nach Bereitschaftsplan 24 Stunden erreichbar sind, wäre diese Arbeit und die Form der Unterstützung überhaupt nicht möglich“, wissen Möbus und Neugirg.

Hintergrund:

Gründe, warum Frauen in Gewaltbeziehungen verbleiben

  • Kinder: Manchmal sind Kinder Anlass, sich zu trennen, insbesondere dann, wenn auch den Kindern Gewalt angetan wird. Vielfach haben die Betroffenen aber auch Angst, den Kindern den Vater zu nehmen oder werden bedroht, die Kinder nicht mehr wieder zu sehen
  • Angst vor einer Eskalation: Bedrohung, Erpressung: Die Betroffenen wissen nicht, was bei einer Trennung passiert. Sie befürchten, dass die Drohungen durch den gewaltausübenden Elternteil wahr werden. Zum Teil fühlen sie sich in Lebensgefahr
  • Das eigene "Sinnsystem": Die Gewalt trifft die Betroffenen zumeist unvorbereitet. Sie können und wollen nicht glauben, Opfer von Gewalt geworden zu sein, weil es ihr Vertrauen in die eigene Lebensbewältigung erschüttert
  • Finanzielle Abhängigkeit, wirtschaftliche Existenzängste: Häufig ist es die fehlende eigene wirtschaftliche Existenzgrundlage, die Frauen hindert, sich aus einer Gewaltbeziehung zu lösen
  • Scham- und Schuldgefühle, Zweifel an der eigenen Wahrnehmung
  • Geringe Aussicht auf ein positiveres Leben
  • Wenig angemessene Unterstützung durch das Umfeld
 
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