ONETZ: Verfallene Gebäude, Bunker, verwunschene Schlösser – was fasziniert dich an verlassenen Orten?
Nina Schütz: Es ist schön zu sehen, was Leute an Orten hinterlassen haben, wie der Verfall Einzug hält. Jedes Gebäude erzählt eine einzigartige Geschichte. Teilweise finde ich Klamotten oder Arbeitsgeräte. Ich stelle mir vor, wie die Menschen damals gelebt haben. Manchmal sind auch die Besitzer dabei, wenn ich fotografiere. Vor einigen Monaten hat mich eine Familie über Facebook angeschrieben. Sie wollte, dass ich ihr Bauernhaus fotografiere, bevor es abgerissen wird. Bis vor eineinhalb Jahren hat dort noch eine Person gelebt. Allein in nur einem Zimmer. Das habe ich gern gemacht. Sie haben mir von dem Menschen erzählt – und ich habe ihre Erinnerungen festgehalten. Früher bin ich losgezogen und wollte coole Bilder machen. Heute fotografiere ich Momente, die an die Vergangenheit erinnern.
ONETZ: Schon in deiner Kindheit hat dich die Fotografie fasziniert. Wie bist du dazu gekommen?
Nina Schütz: Meine früheste Erinnerung ist: Ich war in der 5. Klasse im Schullandheim. Meine Eltern haben mir eine analoge Kamera mitgegeben. Ich fand das so toll, dass ich einen Film nach dem anderen vollgemacht habe. Zuhause musste ich die Kamera wieder abgeben. Einige Zeit später hat mir mein Opa seine geschenkt. Auch er liebte es zu fotografieren und hat wundervolle Bilder gemacht. Als ich ungefähr 12 Jahre alt war, bin ich ganz oft in die Natur, habe fotografiert und gemerkt: Bilder sind für die Ewigkeit. Das fasziniert mich bis heute. Man kann Momente immer wieder abrufen. Ich ziehe ungern ohne Kamera los. Es gibt so viele schöne Augenblicke, die ich sonst verpassen würde.
ONETZ: Wie haben sich deine Motive im Laufe der Zeit verändert?
Nina Schütz: Als ich jung war, habe ich Blumen und Tiere fotografiert – eigentlich alles, was mir vor die Linse gelaufen ist. Später habe ich mich auf Landschaftsaufnahmen konzentriert, bis ich die verlassenen Orte für mich entdeckt habe. Durch meine Ausbildung zur Fotografin haben sich auch meine Bilder verändert. Ich schaue genauer hin und suche das beste Motiv. Früher habe ich einfach drauf losgeknipst. Jetzt mache ich mir mehr Gedanken, wie ich den Moment perfekt einfangen kann. In dieser Hinsicht entwickle ich mich auch heute noch weiter.
ONETZ: Wie findest du die verlassenen Orte?
Nina Schütz: Das ist nicht immer leicht. Es gibt Communities im Internet, in denen man sich mit anderen Lost-Places-Fotografen austauschen kann – die sogenannte Urbex-Szene. Von der halte ich mich aber eher fern. Ich schaue auf Google Earth und suche verlassene Gebiete ab. Mit den Jahren habe ich einen Blick dafür entwickelt, ob ein Gebäude verlassen sein könnte. Zusätzlich suche ich in alten Zeitungsartikeln und Archiven und arbeite mit Heimatpflegern zusammen. Im Laufe der Zeit hat sich bei mir einiges angesammelt und es gibt noch so viele Orte, die ich fotografieren will. Vergangenes Jahr habe ich mir einen Traum erfüllt und war in den Beelitzer Heilstätten in Berlin.
ONETZ: Viele Gebäude befinden sich in Privatbesitz …
Nina Schütz: … und viele Hobby-Fotografen steigen einfach in die Gebäude ein, ohne sich eine Genehmigung zu holen. Ihnen geht es nur um spektakuläre Bilder oder Youtube-Videos, nicht um den eigentlichen Zweck. Das schadet der ganzen Szene. Sie begehen Hausfriedensbruch – und der wird zur Anzeige gebracht. Als ich angefangen habe, war ich auch so blauäugig. Aber seit einigen Jahren gehe ich einen anderen Weg. Ich besorge mir Genehmigungen, rede mit den Eigentümern und erfahre so gleich noch etwas über den Lost Place. Es ist nicht immer leicht, Zutritt zu bekommen. Mir hilft es, dass ich mir einen Namen gemacht habe und einiges vorweisen kann – etwa meine Bildbände. Ich erkläre, was ich vorhabe, und die meisten Besitzer ermöglichen es mir.
ONETZ: Wie muss man sich deine Fototouren vorstellen?
Nina Schütz: Sie meiste Zeit nimmt der schriftliche Aufwand in Anspruch: Eigentümer herausfinden, Genehmigungen einholen … das kann bis zu drei Wochen dauern. Vor Ort bin ich dann mit zwei Kameras und fünf bis sechs verschiedenen Objektiven, einem Stativ und Lampen ausgestattet. Außerdem ist immer mein Freund dabei. Fotografieren wir unterirdisch, reduzieren wir das Equipment, damit wir nicht zu viel tragen müssen. Die Zugänge sind manchmal eng – steile Treppen, kleine Schächte. Angst vor Spinnen, Dreck, wackeligen Leitern oder der Dunkelheit darf man nicht haben (lacht). Vor Ort lassen wir erst einmal alles auf uns wirken. Manchmal konzentriere ich mich auf die ganzen Räume, dann auf Details. Das kann schon mal einen Tag dauern. Beim Fotografieren verliere ich komplett das Zeitgefühl, weil ich in eine ganz andere Welt eintauche.
ONETZ: Liest du dich vorher in die Geschichte des Gebäudes ein?
Nina Schütz: Das ist unterschiedlich. Mal gehe ich unvoreingenommen an einen Ort, ohne etwas über ihn zu wissen, und lasse alles auf mich wirken. Manchmal begleitet mich ein Heimatpfleger, der mir die Geschichte erzählt. Eine Sache erstaunt mich immer wieder: Am Anfang sind es einfach leere Räume. Wenn ich dann aber höre, was darin alles passiert ist, wer darin gelebt hat, füllen sich diese Zimmer vor meinen Augen mit Leben. Und plötzlich wirkt der Ort nicht mehr so verlassen.
ONETZ: Welcher Ort hat dich bisher am meisten beeindruckt?
Nina Schütz: Das ist schwer zu beantworten. Tschernobyl war gigantisch und absolut einzigartig. Aber mittlerweile habe ich so viele Orte besucht und jeder von ihnen hat seinen eigenen Reiz. Da kann und will ich keinen bevorzugen, weil jeder für sich besonders ist.
ONETZ: Bist du schon in gefährliche Situationen geraten?
Nina Schütz: Zum Glück bin ich das noch nie. Wir sind immer vorsichtig, wenn wir einen verlassenen Ort fotografieren. Bei uns geht Sicherheit vor. Wenn irgendetwas gefährlich werden könnte, hören wir sofort auf. Ein Beispiel: Ist der Boden in einem Haus morsch, betreten wir ihn niemals. Auch, wenn wir dadurch ein Motiv verpassen, das wir gerne fotografiert hätten. Grundsätzlich gehen wir bei unseren Fototouren immer mit normalem Menschenverstand vor. Wir schätzen den Ort, machen nichts kaputt und nehmen nichts mit.
ONETZ: 2016 bist du mit deinem Freund nach Tschernobyl gereist …
Nina Schütz: … ein großes Abenteuer. Wir wollten hautnah sehen, was diese Katastrophe angerichtet hat. Durch Dokumentationen oder Zeitungsartikel kann man sich das nicht richtig vorstellen, weil das Gefühl fehlt, das einen diese Region vermittelt. Wir wollten begreifen, welche Folgen dieses Reaktorunglück bis heute verursacht. 2016 haben wir uns diesen Traum erfüllt. Vier Tage verbrachten dort. Unser Hotel lag in der äußersten Zone. Einen halben Tag waren wir in der innersten – in der Stadt Prypjat.
ONETZ: Welche Eindrücke habt ihr in Tschernobyl gesammelt?
Nina Schütz: Als wir das erste Mal in der Sperrzone waren, war das ein unbeschreibliches Gefühl. Das Gebiet war viel größer, als wir es uns vorgestellt hatten. Diese stille, menschenleere Stadt Prypjat mit den vielen Hochhäusern, einfach atemberaubend. Schon während der Fahrt hat man uns einen Zettel gegeben, auf dem stand, was wir in dem Gebiet alles nicht tun dürfen: Nicht essen, nicht rauchen, unser Stativ nicht auf den Boden stellen, keine Gebäude betreten. An jedem Checkpoint wurden wir von Soldaten kontrolliert. In Prypjat war es so still. Wir haben nur uns selbst gehört. In dem Gebiet leben wahnsinnig viele Tiere – Hunde, Füchse. Erstaunlich war auch, dass sich die Natur alles zurückholt. Bäume wachsen in Gebäude, vieles blüht. Man merkt, dass die Menschen damals ohne ihr Hab und Gut verschwinden mussten. Das macht es so bedrückend. Wir hatten drei Kameras dabei, insgesamt sind über 5000 Fotos entstanden. Im umliegenden Wald haben wir Einsiedler getroffen. Tatsächlich leben dort viele Menschen. Sie sind nach dem Unglück zurückgekehrt und werden von der Regierung geduldet. Wir haben uns mit einem älteren Ehepaar unterhalten, das Hühner und Schweine hält und Gemüse anbaut. Unglaublich nette Menschen.
ONETZ: Erinnerst du dich an den unheimlichsten Ort?
Nina Schütz: Ein verlassenes Kloster in Tschechien. Wir sind die langen Gänge entlanggegangen, suchten nach guten Motiven – und plötzlich huschte eine schwarze Gestalt vor uns über den Gang. Mir ist mein Herz in die Hose gerutscht und mein erster Instinkt war: weg hier. Zum Glück hat sich die Situation schnell aufgelöst. Es war ein obdachloser Mann, der in dem Kloster übernachtet hat. Wir haben uns mit ihm unterhalten und er hat uns von dem Kloster erzählt. Eine sehr schöne Begegnung. Aber im ersten Moment war es sehr unheimlich.
ONETZ: Dein neuer Bildband heißt „Lost Places Oberpfalz“ vor. Was fasziniert dich an der Region?
Nina Schütz: Die Oberpfalz ist so vielseitig und bietet alles, was ich brauche. Verlassene Orte, wunderschöne Wälder und Seen sowie unzählige Burgruinen. Ich entdecke immer wieder neue Seiten von unserer schönen Region. Ich befürchte nur, dass ich es in meinem Leben niemals schaffen werde, wirklich jede Ecke zu sehen, weil es einfach zu viele wunderbare Orte gibt.
ONETZ: In dem Buch stellst du 17 Orte vor. Wie hast du die Bilder ausgewählt?
Nina Schütz: Ich hänge emotional sehr an meinen Bildern. Ich habe meinem Verlag einen Ordner mit allen 10.000 Bildern geschickt – und meinen Favoritenordner, in dem auch über 100 Fotos waren. Ich habe eine objektive Meinung gebraucht, da jeder Ort im Buch mit etwa zehn Bildern dargestellt wird. Das hätte ich nicht entscheiden können. Auch die Auswahl der 17 Orte und Gebäude war nicht leicht. Ich habe versucht, unterschiedliche Seiten der Oberpfalz zu zeigen. Allerdings gibt es noch so viele mehr – genug für ein weiteres Buch (lacht). Insgesamt hat der Prozess eineinhalb Jahre gedauert.
ONETZ: Welcher verlassene Ort steht ganz oben auf deiner Wunschliste?
Nina Schütz: Tatsächlich habe ich nicht „den einen“ Wunschort. Vor ein paar Jahren war das noch anders. Da habe ich mir gezielt Gebäude gesucht, die ich unbedingt erkunden wollte. Heute lasse ich alles auf mich zukommen. Ich schaue mir die Gegend bei Google Maps an und wenn ich etwas finde, das mich interessiert, frage ich bei den Eigentümern an. Allerdings wollen wir noch einmal nach Tschernobyl. Mein Traum wäre es, länger zu bleiben, mehr Zeit zu haben und das Gebiet allein erkunden zu können.
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