Ängste stecken tief im Menschen. Sie sind ein Warnsystem. Doch in der Coronakrise lösen sie auch irrationales Verhalten aus. Hamstern zum Beispiel. Diplom-Psychologe Sebastian Sonntag schildert im Interview, wie Ängste entstehen, wie man mit ihnen umgeht. Und er weiß, was man tun kann, dass die fünf Wochen ohne Kita und Schule und mit reduzierten Sozialkontakten eine Bereicherung für das Familienleben werden.
ONETZ: Was löst eine Situation wie die aktuelle Coronakrise in Menschen aus?
Sebastian Sonntag: Es gibt in der Welt viele Krisen, doch die meisten sind weit weg von uns. Wir wissen, dass es sie gibt, damit leben wir. Aber jetzt sind wir direkt betroffen, Alltag und Gewohnheiten ändern sich. Alles fällt aus dem Rahmen. Das sorgt für Verunsicherung und macht Angst.
ONETZ: Ist Angst also eine natürliche Reaktion darauf?
Sebastian Sonntag: Absolut. Ängste sind real, sie sind berechtigt. Wir haben Angst vor Krankheit, vor Tod, vor Schmerz, vor Verlust. Also alles, was uns aus der Bahn wirft. Andererseits haben wir gute Verdrängungsmechanismen. Die brauchen wir, um den Alltag zu überstehen. Wir könnten nicht am Straßenverkehr teilnehmen, wenn wir permanent Angst haben müssten, zu verunglücken. Fehlen diese Mechanismen, kommt es zu Angststörungen, die zu Panik, ja Todesangst führen. Betroffene fühlen sich der Situation hilflos ausgeliefert. In einer Krise sind wir anfälliger für Angst, weil wir eigentlich gerne alles unter Kontrolle haben. Und jetzt haben wir das Gefühl, die Kontrolle verloren zu haben.
ONETZ: Wie entsteht Angst überhaupt?
Sebastian Sonntag: Zunächst einmal ist es ein gesunder Reflex. Ein Warnsystem, das uns eine Gefahr erkennen lässt. Der Steinzeit-Mensch musste Angst vor dem Tiger haben, wenn er ihm begegnete - ansonsten wäre er gefressen worden. Wir haben aber auch unseren Verstand und die Vernunft, die uns die Situation bewerten und einordnen lassen. Deshalb sind Hamsterkäufe völlig sinnlos. Dafür habe ich kein Verständnis.
ONETZ: Warum hamstern Menschen?
Sebastian Sonntag: Dieses Verhalten ist völlig irrational. Es besteht überhaupt kein Grund zu dieser Panik. Es gibt keinen Krieg, es gibt keine Mangelsituation. Interessanterweise sind es nicht die älteren Menschen, die einen Krieg erlebt und traumatische Erfahrungen gemacht haben, die jetzt hamstern. Hauptsächlich sind es diejenigen, die zwischen 30 bis 45 Jahre alt sind. Wahrscheinlich sind viele von ihnen nicht in der Lage, sich darauf einzustellen, dass im Leben nicht alles vollkommen perfekt ist und immer so bleiben muss, wie es gewohnt ist. Oder sich auch mal einzuschränken. Panikkäufer verhalten sich unsolidarisch. "Hauptsache ich bin versorgt": Diese Einstellung ist peinlich und beschämend. Wollen diese Leute in den nächsten fünf Jahren nur noch Nudeln essen?
ONETZ: Auch Toilettenpapier ist höchst begehrt – warum eigentlich?
Sebastian Sonntag: Das kann ich überhaupt nicht verstehen, warum man Klopapier in Mengen horten muss. In einem Supermarkt habe ich völlig leere Regale ohne Klopapier vorgefunden. Da hing ein Zettel dran: Nur Abgabe von einem Paket. Dass so eine Maßnahme notwendig ist, ist für mich einfach lächerlich.
ONETZ: Viele trauen sich im Supermarkt nicht mehr zu husten oder zu niesen, selbst wenn sie nur Heuschnupfen haben. Wie schlimm ist das für Betroffene?
Sebastian Sonntag: Diese Stigmatisierung halte ich für eine sehr bedenkliche Entwicklung. Gleiches gilt auch für Menschen, die sich mit dem Coronavirus angesteckt haben oder die als Verdachtsfall in häusliche Quarantäne geschickt werden. Auch sie erleben Stigmatisierung, sie werden in eine Ecke gestellt. Ihnen wirft man vor, sie seien schuld. Der Mensch sucht sich eben gerne Sündenböcke.
ONETZ: Fehlt den Menschen die psychische Widerstandskraft, Krisen zu bewältigen?
Sebastian Sonntag: Genau damit befasst sich die Resilienzforschung: Warum manche Menschen besser durch Krisen kommen, andere weniger gut. Und warum manche, obwohl sie keinen Grund dazu haben, im Krisenmodus sind. Da tut es gut, mit Menschen Kontakt zu haben, die beruhigt sind, die gelassener sind. Wer jetzt Angst verspürt, kann mit Menschen telefonieren, die sich weniger Sorgen machen und sie fragen, wie sie die Situation bewerten, wie sie damit umgehen. Vielleicht sind das gute Ansätze für die eigene Sichtweise. Gute Beziehungen, ein soziales Netz fördern übrigens Resilienz.
ONETZ: Man sagt, jede Krise birgt auch eine Chance – welche sehen Sie in der jetzigen Situation?
Sebastian Sonntag: Die Chance, Solidarität zu zeigen. Es geht ja vor allem darum, Menschen der sogenannten Risikogruppe zu schützen, für die es wirklich um Leben und Tod gehen kann. Dafür müssen auch Menschen jetzt Einschränkungen in Kauf nehmen, die vielleicht durch Ansteckung mit dem Virus höchstens leichte Symptome - ähnlich wie Grippe oder Erkältung - zeigen würden. Aber um der alten und kranken Menschen Willen fügen sich die meisten. Das ist Rücksicht und Solidarität. Das kann Gemeinschaftssinn fördern. Andererseits müssen wir jetzt genau das Gegenteil von Gemeinschaft machen. Veranstaltungen, Begegnungen, Kontakte werden total eingeschränkt.
Da die Praxis von Sebastian Sonntag wegen der Infektionsgefahr geschlossen ist, bietet er für die Zeit der Coronakrise eine kostenlose Telefonberatung an. "Aufgrund der Ausgeh-Einschränkungen und dem engen Zusammenleben in Familie und Partnerschaft kann zuweilen psychische Unterstützung hilfreich sein", erklärt der Psychologe. Erreichbar ist er von Montag bis Freitag zwischen 10 und 12 Uhr unter Telefon 09621/67 33 11.
ONETZ: Bis nach den Osterferien weder Kita noch Schule. Wie herausfordernd ist das für Familien?
Sebastian Sonntag: All diese Einschränkungen, die wir momentan haben, sind eine große Herausforderung für Familien. Da wird es Konflikte in der Familie geben, da werden sich Paare streiten. Das sollte man hinnehmen, nicht bewerten. Diese dauernde Nähe und das ständige aufeinander angewiesen zu sein, das haben wir bisher so nicht gelernt. Wir sollten darauf mit Gelassenheit, Geduld und Humor reagieren. Und wir können etwas an unserer Einstellung ändern, indem wir uns sagen, dass wir alle keine Heiligen sind und jeder seine Schwächen hat. Ideal wäre es, wenn man Rückzugsräume hat. Ich weiß, dass das in kleinen Wohnungen nicht ganz einfach ist.
ONETZ: Wie erklärt man kleinen Kindern die aktuelle Situation?
Sebastian Sonntag: Für Kinder ist es nicht wichtig, wie die Welt ist. Für sie ist wichtig, wie die Eltern auf die Welt reagieren. Je ruhiger und gelassener, desto besser. Man sollte ihnen erklären, warum sie nicht zu den Großeltern dürfen und dass es nichts mit ihnen zu tun hat. Sondern damit, weil die Großeltern krank werden könnten, was nicht gut für sie wäre. Man sollte ihnen klar machen, dass es nur für eine gewisse Zeit ist. Und dass sie trotzdem mit Oma und Opa kommunizieren können: am Telefon oder per Chat.
ONETZ: Aber Besuche der Enkel bringen doch auch Freunde ins Leben älterer Menschen ...
Sebastian Sonntag: Das stimmt und deshalb ist für die ältere Generation die Isolation alles andere als einfach. Generell muss man sorgsam und achtsam miteinander umzugehen. Man kann regelmäßig bei den Großeltern nachfragen, wie es ihnen geht. Und auch ihnen muss man sagen, dass es nicht an ihnen liegt, sondern darum geht, dass sie gesund bleiben. Und dass es eine Ausnahmesituation auf Zeit ist. Man soll sie weiterhin am Familienleben teilhaben lassen, mit ihnen im Austausch bleiben, indem man ihnen am Telefon oder per Chat erzählt, Fotos von den Enkeln aufs Handy schickt.
ONETZ: Zurück zu den Kindern, wie beschäftigt man die Kleinen, wenn kein Kindergarten ist?
Sebastian Sonntag: Man sollte je nach Altersstufe schauen, wie man die Zeit so verbringt, dass jeder einigermaßen seine Bedürfnisse wahrnehmen kann. Kleine Kinder brauchen mehr Abwechslung. Anregungen gibt es genügend: Bücher, Basteln, Spiele, Rätsel, geeignete Fernsehsendungen. Größere Kinder haben jetzt die Chance, Schule und Lernen von einer anderen Seite zu erfahren. Vielleicht schreibt man als Familie sogar gemeinsam nieder, wie man die Zeit erlebt hat. Hernach kann man das bewerten: Was hat uns gut getan? Was davon wollen wir beibehalten? Soziale Medien können eine besondere Bedeutung gewinnen.
ONETZ: Inwiefern?
Sebastian Sonntag: Wo sonst mehr unbedeutende und banale Dinge ausgetauscht werden, können nun tiefergehende und ernsthafte Meinungen und Botschaften vermittelt werden.
ONETZ: Aber Fake News und Gerüchte verbreiten sich in sozialen Medien rasant. Wie geht man damit um?
Sebastian Sonntag: Diesbezüglich ist es wichtig, dass man soziale Medien und auch das Internet gezielt nutzt. Wenn man merkt, es tut einem nicht gut, so viel über Corona zu lesen, dann sollte man sofort rausgehen. Hypochondern sage ich immer: Geht nicht ins Internet. Gleiches gilt bei Fake News: Ignorieren, sofort raus aus den sozialen Medien.
ONETZ: Verändert die Coronakrise unsere Gesellschaft?
Sebastian Sonntag: Da bin ich mir ziemlich sicher. Ich meine sogar über Generationen hinweg. Es kann unsere Gesellschaft zum Guten verändern. Mein größter Wunsch wäre, dass die Menschen Gewohnheiten, Selbstverständliches überdenken. Wir erleben jetzt die andere Seite der Globalisierung: die Abhängigkeit, wenn Wirkstoffe für Arzneimittel nur in einem Land produziert werden. Auch da sehe ich jetzt eine Chance, was zu ändern. Aber das darf nicht zu Abgrenzung führen.
Nicht über die Einschränkungen jammern, sondern besser auf mögliche Chancen schauen: Das rät Diplom-Psychologe Sebastian Sonntag in der aktuellen Situation angesichts der großen Einschränkungen. Unfreiwillig müsse man auf vieles verzichten, vor allem bei der Freizeitgestaltung, was selbstverständlich und Alltag ist.
Jetzt ist eine gute Gelegenheit, zu beobachten, was man wirklich brauche, was einem fehle. Sonntag schlägt zudem vor, all die Gedanken, die hochkommen, und die inneren Prozesse, die gerade passieren, niederzuschreiben. Man habe nun auch Zeit – für den Partner, die Kinder, die Familie. Man könne auch Fotos sortieren, die ungeordnet irgendwo liegen. Oder mal wieder ein Buch lesen. Sonntag ist sich sicher, dass es in jedem Haushalt Arbeiten und Tätigkeiten gibt, die bislang auf der Strecke geblieben sind. „Wenn ich da nur an unseren Dachboden denke, der müsste mal aufgeräumt werden“, sagt er lachend. Jetzt sei die Chance, Dinge bewusster wahrzunehmen: den Frühling, der kommt; die Vögel, die zwitschern, die Blumen, die draußen blühen.
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