Sebastian Schuster ist 31 Jahre alt. Ursprünglich hatte er einen Job in der Industrie. „Ich habe ein paar Jahre im Schichtbetrieb gearbeitet, dann aber gemerkt, dass das nichts für mich ist.“ Heute sitzt Schuster in einem modernen Büro, in dem in früheren Zeiten eine Lateinschule untergebracht war. Um ihn herum: Fachwerk, kleine Fenster, der Blick über Sulzbach-Rosenberg.
Schuster hat sein Abitur nachgemacht, dann in Regensburg an der OTH Soziale Arbeit studiert. Seit Juli 2020 ist er Sozialpädagoge an der Gerontopsychiatrischen Koordinationsstelle der Oberpfalz tätig. Unter anderem kümmert er sich um die Themen Sucht und Abhängigkeit im Alter. Ein Thema, das mehr Aufmerksamkeit bedarf. Er sagt: „Im Vorlauf meines Studiums habe ich in Amberg in der Tagesdiakonie ein Praktikum gemacht.“ Zunächst wurde er davon abgeschreckt, doch wenig später entwickelte sich die Erfahrung für ihn zum Game-Changer. „Da habe ich mich nach kurzer Zeit erst mal gefragt, wie halten die dort das aus? Je mehr ich verstanden habe, dass jeder dort ein Mensch ist und gleichzeitig seine Krankheitsgeschichte mitbringt, desto spannender fand ich das. Das hat mich im Studium bestärkt.“ Schuster hat während seines Studiums sowohl mit Menschen mit Behinderung gearbeitet und war ebenso in der Bewährungshilfe tätig. „Da bin ich viel mit Drogendelikten in Berührung gekommen.“
Rente und Gewohnheiten
An seine Erfahrungen aus der Schichtarbeit in der Industrie erinnert sich Schuster bis heute. „Da waren Leute, die haben 40 Jahre lang in Tag- und Nachtschicht gearbeitet. Die gingen, wenn sie morgens heimkamen, mit dem Hund Gassi und haben dann zum Einschlafen noch ein Seidel getrunken.“ Für jeden, der das System nicht kenne, wirke das schon so wie der Fall eines Alkoholikers. „Aber das waren nicht mehr als Rituale. Gesund ist das nicht, aber in unseren Breitengraden nicht gerade ungewöhnlich“, sagt Schuster. Der Sozialpädagoge ist niemand, der Alkohol verteufelt. Er selbst trinkt hin und wieder gern mal ein Gläschen, kommt nicht als einer rüber, der eine Null-Toleranz-Politik fährt. Ums Trinken allein geht es auch nicht. Es gebe im Alter weit mehr Faktoren als Alkohol, um von einer Abhängigkeit zu sprechen. Es kommt auf die Umstände, das Alter und die Gewohnheiten an. Dazu sagt Schuster: „Nicht jedes Medikament macht süchtig. Aber bestimmte Kombinationen und Verhaltensmuster führen dazu, dass Menschen, die weit weg vom Modell-Typ Süchtiger sind, in dieses Fahrwasser geraten.“
Gerade Trinkrituale zum Beispiel, die sich während des Arbeitslebens eingeschliffen haben, gehen nicht einfach in Rente, wenn die Person am Ende ihres Berufslebens steht. Schuster: „Da passiert es schnell, dass man sich nicht mehr gebraucht fühlt und keine Tagesstruktur mehr hat.“ Gerade bei Männern blieben die Trinkrituale oft bestehen, aber es kämen zusätzlich altersspezifische Symptome und Krankheiten hinzu.
Um diese zu lindern, kämen häufig starke Schmerz- und Schlafmittel zur Anwendung. „Schnell kommen leicht mal fünf bis sieben Medikamente gleichzeitig zusammen.“ Senioren, die Schusters Vorträge besuchen, lachen häufig über diese Feststellung. Stichwort: „Ich esse Tabletten wie Gummibärchen.“
Ehrlich im Gespräch mit Arzt sein
Doch Schusters Anliegen ist ernst. Ab einer Einnahme von mindestens fünf Medikamenten gleichzeitig sprechen Experten von der sogenannten Polypharmazie. Das bedeutet, dass gleichzeitig so viele Medikamente genommen werden, dass sich Mediziner schwertun, unerwünschte Nebenwirkungen auf ein spezielles Medikament zurückzuführen. Alkohol ist dafür bekannt, entweder die Wirkung oder aber die Nebenwirkungen von Medikamenten zu verstärken. Gleiches gilt für manche Medikamente, die regelmäßig ohne Absprache mit dem Arzt eingenommen werden. Gerade in diesem Bereich ist es Schuster zufolge wichtig, dass Betroffene oder aber Angehörige offen und ehrlich im Gespräch mit dem behandelnden Arzt sind, auch wenn das mit Schamgefühlen einhergehen mag. „Wüsste der Arzt von den Gewohnheiten des Patienten, würde er sicherlich auch anders reagieren. Und andere Therapieansätze wählen, würde ich ihm sagen, dass ich jeden Tag zehn Bier trinke“, sagt Schuster.
Menschen sensibilisieren
Was Schuster immer wieder auf seinen Vorträgen erlebt, ist, dass sich zunächst niemand angesprochen fühlt. Doch es kann jeden treffen. Unter anderem die schleichende Kombination aus Alkohol und Medikamenten im Alter ist das, wofür er Betroffene und Angehörige sensibilisieren möchte. Dafür ist Schuster in der gesamten Oberpfalz unterwegs. „Sucht zählt zu den psychischen Erkrankungen. Mittlerweile ist man glücklicherweise darauf aufmerksam geworden, dass es auch bei uns eine Lücke im Bereich Sucht im Alter gegeben hat.“
Benzodiazepine, also Mittel, die dämpfend auf das Zentralnervensystem wirken, sind zum Beispiel aus der Drogenszene bekannt. „Wenn ich bei meinen Vorträgen danach frage, schütteln die Leute zumeist erst einmal mit dem Kopf. So was gibt es in der Oberpfalz doch höchstens vielleicht in Regensburg.“ Bei Benzodiazepinen handelt es sich aber auch um Medikamente, die beispielsweise als Schlaf- oder Beruhigungsmittel zum Einsatz kommen. „Die werden schon recht lange eingesetzt, weil sie extrem schnell und sehr gut wirken. Aber den Begriff Benzodiazepin kennen am Land viele gar nicht. Aber wenn ich was aber Valium, Tavor oder Lorazepam sage, dann klingelt es.“
Körper verändert sich
Schuster ist es wichtig, hervorzuheben, dass sich der Körper im Alter verändert. „Der Wasseranteil sinkt, dafür steigt der Fettanteil.“ Das könne Auswirkungen auf die Verträglichkeit und Wirksamkeit von Medikamenten haben. „Oft heißt es, das Medikament nehme ich seit Jahren. Gerade im Alter müsste viel genauer hingeschaut werden und regelmäßig kontrolliert werden, ob die ursprünglich verschriebene Dosis noch angemessen ist.“ Allgemein brauche es ein besseres Bewusstsein älterer Menschen, was ihre Medikamente angeht. „Es wäre wichtig, zu versuchen, wofür man welches Medikament nimmt und was es bewirkt.“ Auch die Angehörigen seien gefragt, wenn ihnen zum Beispiel Veränderungen an ihrem Vater oder an ihrer Mutter auffallen.
Denn oft sei es gar nicht so einfach, herauszufinden, was eigentlich los ist. Handelt es sich um eine Demenz? Hat die Person vielleicht Depressionen? Vielleicht ist sie betrunken oder aber der plötzlich unsichere Gang hat andere Ursachen. Schuster sagt: „Verschiedene Zustände können sich auch gegenseitig verstärken. Je besser ich eine Person kenne, desto leichter fällt es mir, zu schlussfolgern, was los ist.“
Wenn Sebastian Schuster in ein Altenheim kommt, erkundigt er sich zunächst immer, ob es einen Bierautomaten gibt. Denn ein Spruch besagt: Einen alten Baum verpflanzt man nicht mehr. „Die Leute im Alter leben seit 70 oder 80 Jahren in der Oberpfalz. Sie sind mit den Ritualen hier aufgewachsen und haben bestimmte Gewohnheiten. Ein moralischer Fingerzeig ist da der falsche Weg“, erklärt er.
In Seniorenheimen geht es auch darum, die Lebensrealität ihrer Bewohner abzubilden. „Wer sein Leben lang Bier getrunken hat, wird es sich auch im Alter nur schwer abgewöhnen können.“ Dementsprechend kann auch Bier ein Teil der Lebensrealität der Bewohner sein. „Wenn ein Mensch sein Feierabendbier gewohnt ist, dann fühlt er sich auch wohler, wenn er das bekommt. Das hat was mit Lebensqualität zu tun“, weiß der Fachmann.
Gegen striktes Alkoholverbot
Hinzu kommt, dass auch Alkoholiker älter werden. Wer trinken will, der finde einen Weg. „Einem Alkoholiker zu sagen, er soll aufhören zu trinken, ist, wie einem Asthmatiker zu sagen, er soll aufhören zu husten.“ Zwar bestehe bei einer Alkoholsucht immer die Möglichkeit einer Behandlung. Aber ein striktes Alkoholverbot in Seniorenheimen lehnt er ab. Auch hier sei ein offener Umgang entscheidend. „Wenn im Heim bekannt ist, dass eine Person zum Beispiel drei Bier am Tag trinkt, dann ist es viel einfacher, die Medikation dementsprechend anzupassen. Weiß man es nicht, und die Person macht es heimlich, dann entsteht gerade das Problem. Es braucht das Bewusstsein wie bei anderen psychischen Krankheiten.“
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