Im Dezember erfuhr der 48-Jährige, dass sein Kampf gegen Krebs aussichtslos geworden ist. Sein Leben neigt sich dem Ende zu. Alle Behandlungen wurden eingestellt, weil sie dem Vater zweier Töchter (9 und 25 Jahre) in seinem Zustand mehr schaden als nutzen würden. Das Palliativ-Team ist Stammgast.
Mike Fiedler will seine Geschichte öffentlich machen. Aber nicht, weil er Spenden möchte, wie er ausdrücklich betont. Auch nicht, weil er Rachegelüste verspürt. Sondern, weil er die Menschen dazu ermutigen will, zu kämpfen und für ihre Rechte einzustehen. "So viel Pech wie ich hatte, passt auf keine Kuhhaut mehr." Und er möchte darauf hinweisen, was ein Mensch mit dieser Diagnose für "Knüppel zwischen die Beine" geworfen bekommt, beispielsweise von den zuständigen Behörden.
An der Wand im Wohnzimmer der barrierefreien Wohnung in Ammersricht hängen Gitarren, Zeitungsberichte und Plakate von Auftritten seiner Heavy-Metal-Band Striker. "Die Musik hat mich immer begleitet", sagt der gebürtige Regensburger, der im Alter von zehn Jahren mit seinen Eltern von Landshut nach Hohenkemnath gezogen war. Mike besuchte die Schule in Ursensollen und machte eine Lehre als Dachdecker. Als Messebauer und Tontechniker meldete er schließlich ein Gewerbe an. "Ich bin schon viel unter den Decken gehängt", sagt er. 2003 kam er mit Tina zusammen, die er schon als Jugendlicher kannte. "Diese Frau ist einfach das Beste, was mir jemals passiert ist. Jede andere wäre davongelaufen." Sie pflegt und umsorgt ihn liebevoll. Seit 2011 sind sie verheiratet. Die schwere Krankheit begann mit Rückenschmerzen vor acht Jahren. Fünf Jahre später kamen Taubheitsgefühle in den Beinen dazu. Mike Fiedler ging zu einem Neurologen, der ihm einfach einen gelben Zettel ausstellen wollte. Das wurmt ihn heute noch. "Ich war immerhin selbstständig. Das hätte mir gar nichts gebracht." Trotz eingehender Untersuchungen habe der Mediziner bei ihm nichts gefunden. Ein Jahr später wurden die Schmerzen in den Beinen so schlimm, dass er schon beim Gehen wankte. "Ich hatte das permanente Gefühl, dass meine Beine eingeschlafen sind." Ein Gefäßchirurg vermutete 2016, dass es sich nur um einen Tumor handeln könne. Und genau so ist es. "Dem tollen Arzt verdanke ich, dass ich noch da bin."
Trotzdem war ein Jahr wertvolle Zeit in der Behandlung verstrichen. Der Tumor hatte zwölf Monate Zeit gehabt, ungehindert weiterzuwachsen. Entstanden ist er im Brustwirbel-Bereich. Das sei selten, aber das scheint Fiedlers Schicksal zu sein. "Bei mir treffen immer die 0,1 Prozent zu. Das zieht sich wie ein roter Faden durch mein Leben." Bei einer Tumor-Konferenz hatte sich lediglich ein Arzt dazu bereiterklärt, ihn zu operieren. Das war im September 2016 in Osnabrück. Mittlerweile ist der Tumor 20 Zentimeter groß und dick wie eine Haselnuss. "Ich kann ihn spüren und manchmal höre ich ihn sogar wachsen", ist Mike Fiedler überzeugt. Ab und zu unterdrückt er einen Schmerzlaut und fährt mit seiner Hand zu den Lymphknoten unter den Achseln. Seine Durchblutung ist schlecht. Er fährt mit seinem elektrischen Rollstuhl nach draußen, um zu rauchen. Dort haben ihm Freunde eine Terrasse mit zwei Rampen gebaut. Die Freunde, die auch Geld dafür gesammelt haben, dass Tina und ihre Tochter übers Wochenende zur ersten Operation mit nach Quackenbrück bei Osnabrück fahren konnten. Mit Übernachtung im Hotel. Freunde, die es heute noch gibt. Regelmäßig kommt Besuch.
"Alles war ein Kampf"
Tina Fiedler trinkt einen Schluck Kaffee und erzählt ruhig von den zahlreichen Operationen, nächtlichen Anrufen aus dem Krankenhaus, Besuchen auf der Intensivstation, Terminen bei der Arbeitsagentur und Rechtsanwälten, dazwischen Kündigung des Mietverhältnisses wegen Eigenbedarf, Suche nach einer barrierefreien Wohnung, Autokauf. "Alles war ein Kampf." Mike Fiedler wollte ihn gewinnen. Anfangs machte er einfach weiter im Job. Auf Krücken versuchte er den Messebau. Doch der Tumor forderte sein Gehvermögen. Allein die Anträge für Hartz IV füllen bei der Familie Fiedler ganze Aktenordner. Falsche Berechnungen des Teilzeitgehalts der Pflegehelferin hätten für ihren Mann 26 Euro im Monat bedeutet. "Ich bin dann dagesessen und habe mir gedacht, das kann doch jetzt nicht sein", sagt die Frau.
Stolz ist Mike Fiedler auf eine Umschulung, die ihm von einer engagierten Mitarbeiterin der Arbeitsagentur bewilligt wurde. Alle anderen Kollegen seien nicht sehr hilfreich gewesen. Ein Jahr lang hat er ein virtuelles Klassenzimmer besucht, Prüfungen geschrieben und bestanden, trotz der Krankenhausaufenthalte. Im Februar 2018 reichte der Tumor schließlich schon von Brustwirbel eins bis sieben. "Die Frage war ganz einfach: Was macht er als nächstes kaputt?" Nach drei Monaten Wartezeit bekam Mike Fiedler einen Termin bei einem anderen Neurologen, der ihn in eine Forschungsgruppe nach Regensburg vermittelte. Dann ging es ruckzuck: Termine mit Neuro-Onkologen und Strahlentherapie, plus Tablettenchemo. "Das war aber reine Forschung - entweder hopp oder top", erklärt Tina Fiedler. Keiner habe Erfahrung mit einem Tumor dieser Art und dieser Größe gehabt. "Ich hab die Chemo gut vertragen, ich war guter Dinge", sagt ihr Mann. "Ich konnte immer mit der Situation leben, wie sie ist", meint der 48-Jährige. Seine Frau bestätigt: "Ja, wir sind reingewachsen. Wir haben gelernt, mit der Situation umzugehen."
Eine Zeit lang konnte Fiedler noch bei seiner Versorgung mithelfen. Ab der Bestrahlung ging das nicht mehr. Seine Beine waren ab diesem Zeitpunkt endgültig gelähmt. Mit dem Medikament Cortison kamen Gewichtszunahme und die Wassereinlagerungen. 50 Kilo habe er insgesamt zugenommen. Mit einer Stoma-Operation, bei der Mike ein künstlicher Darmausgang gelegt werden sollte, erhoffte sich das Paar Erleichterung im Alltag, doch der Termin stand unter keinem guten Stern. Der Darm wurde negrotisch, es folgten eine zweite und eine dritte OP sowie weitere Komplikationen. Hinzu kamen Druckgeschwüre und mit den offenen Stellen die Keime. Dem Tumor den Weg abzuschneiden, indem die Nervenbahnen gekappt werden, ist für die beiden keine Alternative. "Da würde ich nur noch wie ein Stück Fleisch daliegen." Im November halfen ihm nur noch ganz starke Opiate, um den Tag zu überstehen.
Beerdigung geregelt
Die Fiedlers nahmen Kontakt zum Palliativ-Schmerz-Team auf, das ein Büro in Kastl hat. "Die waren so toll. Haben sich zwei Stunden Zeit genommen und ich habe gemerkt, da werde ich wieder zum Menschen." Eine Schmerzpumpe erleichtert ihm einigermaßen den Alltag. Sechs verschiedene Keime hat Mike Fiedler in seinem Körper. "Die raffen mich jetzt darnieder." Trotz allem ist die Gewissheit für ihn eine Erleichterung, weil er weiß, er muss nicht mehr ins Krankenhaus. "Ich habe schon alles geregelt, die Bestattung, sogar welches Lied sie auf der Beerdigung spielen sollen."
Sein erklärtes Ziel ist, der Verhandlung gegen den Neurologen am 13. Februar beizuwohnen. "So lange möchte ich unbedingt noch leben. Damit die Leute sich auch mal trauen, gegen die Ärzte was zu machen. Die Diagnose hätte man 2015 schon stellen müssen." Sein zweiter Wunsch wäre, ein Wochenende mit seiner neunjährigen Tochter und seiner Frau in Berlin zu verbringen. Hierfür hat Tina Fiedler schon an den Arbeitersamariterbund geschrieben, da sie die Fahrt allein mit dem Auto nicht bewältigen könne und vor Ort ja ein Pflegebett benötigt werde. Eine Antwort stehe noch aus. "Es gibt ja bestimmt mehr Menschen, die krank sind und Wünsche haben", vermutet sie. Da geht die Tür auf und eine gute Freundin kommt herein. Mike Fiedler nutzt die Begrüßungszeremonie, um mit seinem elektrischen Rollstuhl nach draußen zu fahren. "Ich dachte, irgendwann steht er wieder auf und wir gehen spazieren", sagt Tina Fiedler: "Ist halt blöd, dass er nicht bei mir sein kann, bis ich 80 bin." Es grenzt an ein Wunder, dass sein Herz noch schlägt. "Weltweit bin ich der Einzige, der mit so einem großen Tumor, wie ich ihn jetzt habe, noch lebt", sagt Mike Fiedler. 0,1 Prozent.
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