Grafenwöhr, Regensburg, Bayreuth und schließlich Flossenbürg – vier Orte auf dem Leidensweg von Ernst Reiter. Der Österreicher wollte dem nationalsozialistischen Regime nicht zu Diensten sein und lehnte es ab, Teil der NS-Kriegsmaschinerie zu werden. Deshalb wurde er ins Konzentrationslager Flossenbürg verschleppt. Zum ersten Mal wird er im September 1938 in seiner Heimatstadt Graz verhaftet und verurteilt, weil er den Wehrdienst verweigert. Als er die sechsmonatige Gefängnisstrafe in der Steiermark abgesessen hat, holt ihn im März 1939 ein Unteroffizier der Wehrmacht ab und bringt ihn auf den Truppenübungsplatz Grafenwöhr.
Auch dort verweigert Ernst Reiter (1915–2006) den Kriegsdienst. Als er die Uniform anziehen und das Gewehr empfangen sollte, sagt er: "Das brauch ich nicht, das behaltet euch. ‚Ich bin ein Christ‘, hab ich gesagt, ‚du sollst nicht morden‘ und das halte ich. Ich kann keinem Menschen das Leben nehmen, weil ich es ihm auch gar nicht geben kann." Reiter berichtete darüber im Jahr 1990 in einem Zeitzeugen-Interview für das US-Holocaust-Museum in Washington. Der Hauptmann habe damals gesagt: „Wissen Sie nicht, dass Sie der Obrigkeit gehorchen sollen?“ “Ja, hab ich gesagt, das weiß ich und ich gehorche der Obrigkeit, aber keinem Menschen. Wenn dieses menschliche Gesetz gegen dieses obrigkeitliche Gesetz verstößt", entgegnete Reiter damals.
Als erste Glaubensgemeinschaft 1933 verboten
Der am 11. April 1915 in Graz geborene und dort aufgewachsene Ernst Reiter ist ein "Ernster Bibelforscher" wie die Zeugen Jehovas damals hießen. Sein Schicksal wird auch in der Ausstellung der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg in der ehemaligen Lagerwäscherei gewürdigt. So wie der Österreicher verweigerten sich Tausende Zeugen Jehovas in Deutschland aus ihrem Glauben heraus dem NS-Regime, dessen Führerkult mit dem Gruß „Heil Hitler!“, und lehnten den Militärdienst ab. Die Zeugen Jehovas gehören zu den ersten Verfolgtengruppen – sie werden als erste Glaubensgemeinschaft nach der Machtergreifung im März 1933 verboten. In Bayern am 18. April 1933.
Die Zeugen Jehovas werden vom NS-Regime wegen ihrer religiösen Überzeugung verfolgt, verhaftet und in die Konzentrationslager verschleppt. Im Jahr 1933 gibt es in Deutschland rund 25.000 deutsche Zeugen Jehovas. Etwa 10.000 Zeugen Jehovas werden unterschiedlich lange Zeit inhaftiert – manche bis zu zwölf Jahre. Ins Konzentrationslager werden von den Nationalsozialisten rund 2000 deutsche und gut 1000 ausländische Bibelforscher verschleppt. Rund 1200 Zeugen Jehovas sterben oder werden ermordet. Darunter 250, die wegen Kriegsdienstverweigerung hingerichtet werden. Für das Konzentrationslager Flossenbürg lassen sich rund 70 inhaftierte Zeugen Jehovas belegen, 12 von ihnen haben nachweislich nicht überlebt, berichtet Gedenkstättenleiter Jörg Skriebeleit.
Eine Unterschrift würde die Freiheit bringen
Ernst Reiter wird wegen seiner Kriegsdienstverweigerung in Regensburg zum zweiten Mal verurteilt – zu 18 Monaten Zuchthaus, die er in der Strafanstalt St. Georgen-Bayreuth verbüßen soll. „Was?“ habe er gesagt, „so wenig?“, sei es ihm damals im Gerichtssaal herausgerutscht. Er habe gewusst, dass nach dem Zuchthaus das Konzentrationslager kommen würde. "Mir wäre es lieber gewesen, wenn sie hätten gesagt, zehn Jahre Zuchthaus." Nach dem Verbüßen seiner Haftstrafe wird Ernst Reiter im November 1940 ins Konzentrationslager Flossenbürg verschleppt. Er erhält die Häftlingsnummer 1935 und den "Lila Winkel", das Zeichen mit dem die SS alle Zeugen Jehovas in den Lagern stigmatisierte.
Die Zeugen Jehovas sind eine Ausnahmeerscheinung im mörderischen Lagersystem. Als einzige Häftlingsgruppe könnten sie sofort freikommen. Dazu müssten sie ihrem Glauben abschwören, dem NS-Regime ihre Gefolgschaft erklären und sich zum Kriegsdienst bereiterklären. Eine Unterschrift würde genügen. Dass die Zeugen Jehovas standhaft bleiben, beeindruckt viele Häftlinge. Getragen wird deren Standhaftigkeit vom Glauben. "Für mich war es wichtig, dass ich Jehova ja nicht irgendwie beleidige sozusagen, dass ich das tue, was er von uns wünscht", erläuterte Reiter später seine Haltung. "Weil nur das ewiges Leben bedeutet, alles andere geht sowieso ins Verderben."
"Mich beeindruckte, dass die Zeugen Jehovas nicht unterschreiben, ihrem Glauben abzuschwören, obwohl sie dadurch aus den Lagern hätten freikommen können", berichtete Alex Ebstein (1926–2015). Er stammte aus einer jüdischen Familie in Breslau. Seine Eltern und die Schwester wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Er wurde ins Konzentrationslager Auschwitz verschleppt und kam über Sachsenhausen schließlich zu Beginn des Jahres 1945 nach Flossenbürg. Es war nicht nur die Standhaftigkeit der Zeugen Jehovas, die vielen Überlebenden in bester Erinnerung geblieben ist, sondern auch deren Hilfsbereitschaft. Gleichwohl gab es auch Konfliktstoff. "In ihrer Wahrheitsliebe gingen sie stets so weit, dass sie auch die Grenze der Kameradschaftlichkeit nicht gelten ließen", berichtete der frühere Generalsekretär des lutherischen Weltbundes Hanns Lilje (1899–1977). Er war im Jahr 1944 wegen seelsorgerischer Kontakte zu Beteiligten des Widerstandes vom 20. Juli 1944 verhaftet worden. Zugleich spricht auch Lilje voller Respekt über die Zeugen Jehovas: „Sie können für sich in Anspruch nehmen, die einzigen Kriegsdienstverweigerer großen Stils zu sein, die es im Dritten Reich gegeben hat, und zwar offen und um des Gewissens willen."
Nach dem Krieg den Zeugen Jehovas angeschlossen
Alex Ebstein hat sich nach seiner Befreiung den Zeugen Jehovas angeschlossen. Seine Zeit im Konzentrationslager Flossenbürg habe er "als Wendepunkt in seinem Leben" bezeichnet, berichtet sein Biograf Christoph Wilker. Ebstein habe dort einen Zeugen Jehovas aus der Ukraine kennengelernt. "Die Gespräche mit Daniel Budakowsky gaben ihm neuen Lebensmut." Wilker hatte einige Jahre engen Kontakt mit Alex Epstein und schätzt ihn für dessen lebensbejahende Art. Im Jahr 2012 verbrachte Wilker mit Alex Ebstein zwei Tage beim jährlichen Treffen der ehemaligen Häftlinge in Flossenbürg. Der Autor zeichnet den Lebensweg des Zeitzeugen in seinem Buch "Und wieder war ich gerettet. Wie Alexander Ebstein die Konzentrationslager Auschwitz, Sachsenhausen und Flossenbürg überlebte und zu einem erfüllten Leben fand" nach. Am Samstag, 22. April, um 15.30 Uhr wird Christoph Wilker in der Gedenkstätte Flossenbürg daraus lesen. "Seine Biografie an diesem Ort vorstellen zu dürfen, ist für mich ein besonders berührendes Erlebnis."
Vor der Lesung wird um 14 Uhr im Tal des Todes der Gedenkstätte eine Gedenktafel für die verfolgten Zeugen Jehovas enthüllt. "Die Enthüllung der Gedenktafel ist eine sehr späte Würdigung dieser zu Unrecht lange vergessenen Opfergruppe", sagt Gedenkstättenleiter Jörg Skriebeleit. Das betont auch Wolfram Slupina von den Zeugen Jehovas. "Die Enthüllung der Gedenktafel in Flossenbürg ist eine historische Würdigung der NS-Opfergruppe Jehovas Zeugen und ist ein weiterer Meilenstein in der gesellschaftlichen Arbeit gegen das Vergessen." Slipuna bedauert, dass die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas "lange Zeit zu jenen ‚vergessenen‘ Opfergruppen" gehörte, "deren Schicksal und Leid unter der NS-Diktatur in der öffentlichen Erinnerung lange Zeit verdrängt worden ist". Dabei gehörten die Zeugen Jehovas "aufgrund ihrer Glaubensüberzeugung zu entschiedenen Gegnern der Nationalsozialisten", sagt Skriebeleit. "Gerade deswegen wurden sie von diesen erbarmungslos verfolgt."
Wochenende der Feierlichkeiten rund um den 78. Jahrestag der Befreiung
Die Gedenkstätte Flossenbürg heißt am Wochenende 22. und 23. April alle Überlebenden, ihre Familien und Angehörige, Freunde der Gedenkstätte und Interessierte in Flossenbürg willkommen. Dazu ist das "Zelt der Begegnung" aufgebaut und es gibt eine Reihe öffentlicher Veranstaltungen.
- Samstag, 22. April:
- 10 bis 12 Uhr: "Markt der Möglichkeiten", um miteinander ins Gespräch zu kommen. Die KZ-Gedenkstätte gibt Einblicke in Ausstellungsprojekte und digitale Initiativen. Yves Durnez spricht über seine Familiengeschichte und die Städtepartnerschaft von Flossenbürg und Wervik (Belgien).
- 14 Uhr: Enthüllung einer Gedenktafel für die Zeugen Jehovas.
- 15.30 Uhr: Lesung mit Christoph Wilker „Und wieder war ich gerettet“ über das Schicksal von Alex Ebstein. Ort: Alter Seminarraum in der ehemaligen Kommandantur.
- Sonntag, 23. April:
- ab 9.30 Uhr: Möglichkeit zur Besichtigung der Ausstellung „Flossenbürg durch meine Augen“ der internationalen Jugendbegegnung.
- ab 10 Uhr: Pop-up-Archiv – welche Bedeutung hat Flossenbürg für mich persönlich? Die Kreativstation lädt dazu ein, sich dieser Frage künstlerisch zu stellen.
- 10 bis 12 Uhr: Offener Begegnungsraum. Die historische Abteilung lädt Besucher dazu ein, über ihre Familiengeschichten ins Gespräch zu kommen und offene Fragen zu ihren Angehörigen gemeinsam zu recherchieren.
- 14.20 Uhr: Feierlicher Gedenkakt anlässlich des 78. Jahrestages der Befreiung (nur auf Einladung) mit dem bayerischen Innenminister Joachim Herrmann, dem Evangelischen Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm und dem ehemaligen Häftling des KZ Flossenbürg Dr. Leon Weintraub (Teilnahme nur auf Einladung). Anschließend Kranzniederlegung am Platz der Nationen.
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