Am Mittwoch jährt es sich zum 76. Mal der Tag, an dem die russische Rote Armee das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz befreit hat. Der 27. Januar ist seit 1996 der offizielle Holocaust-Gedenktag in Deutschland. In Berlin findet am Mittwoch eine Gedenkveranstaltung im Bundestag statt. Im Anschluss daran liegt eine Torarolle im Andachtsraum des Bundestags aus. Nicht irgendeine, sondern die älteste Süddeutschlands. Eine, die auf wundersame Weise dreimal gerettet wurde – und somit heute der Nachwelt erhalten geblieben ist. Zu verdanken ist dies Elias Dray, dem Rabbiner der israelitischen Kultusgemeinde Amberg. Er hatte sie 2015 im Toraschrein der Synagoge in Amberg entdeckt. Vermerkt waren darauf „Sulzbach“ und die hebräische Jahrszahl 5553. Das bedeutete, dass die Torarolle – 24 Meter lang und 65 Zentimeter hoch – einst im Besitz der bedeutenden jüdischen Gemeinde Sulzbach war. Geweiht wurde sie nach christlicher Zeitrechnung im Jahre 1793.
Restaurierung in Israel
„Sie war in einem sehr schlechten Zustand“, erinnert sich Dray. „Vergilbt, teilweise war das Pergament löchrig.“ In diesem Zustand hätte aus ihr nicht mehr in der Synagoge gelesen werden können. Sie hätte dann, wie dies im Judentum bei nicht mehr brauchbaren religiösen Schriften üblich ist, auf einem jüdischen Friedhof begraben werden müssen. Elias Dray aber brachte die Schriftenrolle nach Israel, um sie restaurieren zu lassen. Geschätzte Kosten: rund 45000 Euro. Da die israelitische Kultusgemeinde Amberg als Besitzerin der Schriftenrolle dieses Geld nicht hätte aufbringen können, übernahm der Bund den größten Teil der Kosten. „Das war enorm viel Arbeit“, sagt Shaul Nekrich über die Restaurierung. Der 41-Jährige ist Rabbiner der jüdischen Gemeinde von Kassel und der einzige Toraschreiber (Sofer) in ganz Deutschland. „Es wäre leichter gewesen, eine neue Torarolle zu schreiben“, weiß er aus Erfahrung.
"Diese Tora ist die Verbindung des jüdischen Lebens vor dem Holocaust zum jüdischen Leben heute."
Zwei Jahre lang hat Isaak Rosengarten die Torarolle aus der Oberpfalz restauriert. Rosengarten, der in der großen orthodoxen Gemeinde Bnei Brak nahe Tel Aviv lebt, ist laut Nekrich ein in Israel bekannter Rabbiner. Shaul Nekrich wird Rosengartens Meisterwerk am Mittwoch vollenden, indem er die letzten Buchstaben der Tora schreibt. Normalerweise geschieht dies im Haus eines angesehenen Mannes, zumeist eines Rabbiners, wie Shaul Nekrich erklärt. Am Mittwoch versammeln sich dafür im Andachtsraum des Bundestags die höchsten Repräsentanten der Republik plus die ranghöchsten Vertreter des Judentums in Deutschland sowie Rabbiner Elias Dray aus Amberg. „Ich schreibe für jede der anwesenden Personen einen Buchstaben“, so Nekrich. Normalerweise sei es so, dass derjenige, für den er den Buchstaben schreibe, die Hand auf seine lege. Wegen Corona sei dies nicht möglich. Stattdessen werden die höchsten Repräsentanten der Bundesrepublik und ihrer Verfassungsorgane – von Bundespräsident Steinmeier und Kanzlerin Merkel über Bundestagspräsident Schäuble bis hin zu Bundesverfassungsgerichtspräsident Harbarth – sowie Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Gedenktags-Rednerin Charlotte Knobloch und Rabbiner Elias Dray im Abstand von circa zwei Meter von Nekrich entfernt stehen, wenn dieser für sie die Buchstaben schreibt. Es ist ein Akt mit enormer Symbolkraft.
Mit Gänsefeder auf Pergament
Mitbringen wird Nekrich eine Gänsefeder und eine koschere schwarze Tinte, die nicht verblasst. Shaul Nekrich ist der einzige, der in Deutschland das Jahrtausende alte Handwerk des Toraschreibens beherrscht. Geschrieben wird die Tora, die die fünf Bücher Mose umfasst und die Heilige Schrift im Judentum ist, von Hand – mit schwarzer Tinte und Gänsefeder auf Pergament, der Haut eines koscheren Tieres, von rechts nach links und in Althebräisch. Würde auch nur ein einziger Buchstabe der Tora fehlen, wäre sie nicht mehr koscher – und somit nicht mehr zu verwenden. Etwa ein Jahr und zwei, drei Monate brauche man, um eine Tora zu schreiben, erklärt der Sofer. „Das ist acht Stunden Arbeit pro Tag.“ Schreibt der Sofer einen Buchstaben falsch, darf er ihn löschen und neu schreiben. Das allerdings gilt nicht für den Gottesnamen. Unterläuft ihm dabei ein Fehler, muss er das betreffende Pergamentstück, circa einen Meter lang, komplett neu schreiben.
Auftakt zum Jubiläumsjahr
Die Vollendung der restaurierten Torarolle aus der Oberpfalz am Mittwoch im Bundestag ist zugleich der Auftakt für das Jubiläumsjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland". Für Shaul Nekrich ist diese Heilige Schrift des Judentums aus dem Jahre 1793 etwas ganz Besonderes. „Sie ist die Verbindung des jüdischen Lebens vor dem Holocaust zum neuen jüdischen Leben heute“, sagt er. Ambergs Rabbiner Elias Dray kann ihm nur beipflichten. Auch für ihn ist diese Torarolle eine Kostbarkeit. Er verweist darauf, was in den 228 Jahren ihrer Existenz alles passiert ist: die napoleonische Herrschaft, das Kaiserreich, zwei Weltkriege, den Holocaust, die deutsche Einheit.
„Die Tora war in einem sehr schlechten Zustand: vergilbt, teilweise war das Pergament löchrig.“
Aufbewahrt, aber nicht ausgestellt wird die Torarolle laut Elias Dray zunächst im jüdischen Museum Berlin. Im Juni wird die restaurierte Heilige Schrift nach Amberg zurückkehren. Der Rabbiner kündigt an, dass danach aus ihr wieder gelesen wird: Zu besonderen Anlässen, wenn es erforderlich ist, aus zwei oder drei Torarollen zu lesen. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn der Beginn des jüdischen Lichterfestes Chanukka auf einen Shabbat fällt.
Die Geschichte der ältesten Torarolle Süddeutschlands
- 1793 wird die Torarolle, die sich im Besitz der jüdischen Gemeinde Sulzbach befindet, geweiht. Das lässt sich aus den Inschriften „Sulzbach“ und der hebräischen Jahreszahl 5553 schließen.
- 1822 wütet ein Großfeuer. Die 1793 geweihte Torarolle übersteht den Stadtbrand unbeschadet. Dass die jüdische Gemeinde Sulzbach damals mindestens 17 Torarollen besaß, belegt ihr hohes Ansehen und ihre Bedeutung.
- Anfang des 20. Jahrhunderts beginnt der Niedergang der Sulzbacher jüdischen Gemeinde, die um 1800 mit etwa 70 Familien und rund 350 Menschen ihre Blütezeit hatte. Als die Minjan, die zehn für einen Gottesdienst erforderlichen erwachsenen Männer, nicht mehr zusammengebracht werden , löst sich die Gemeinde auf. Die Torarollen, darunter auch jene von 1793, und weitere Ritualgegenstände gehen in den Besitz der Amberger jüdischen Gemeinde über.
- Im November 1938 erfährt Leopold Godlewsky, Religionslehrer über 30 Jahre Oberhaupt der Amberger jüdischen Gemeinde, von der bevorstehenden Pogromnacht. Er versteckt Torarollen, darunter auch jene von 1973 und Ritualgegenstände im Heimatmuseum. Nach dem Krieg bekommt die jüdische Gemeinde ihr Eigentum zurück.
- 2015 entdeckt Rabbiner Elias Dray die Torarolle von 1793. Sie ist in einem schlechten Zustand. Dray bringt sie nach Israel und lässt sie restaurieren, was fast zwei Jahre dauert. Die Kosten von rund 45000 Euro übernimmt fast komplett der Bund.
- 27. Januar 2021: Im Beisein der höchsten Repräsentanten des deutschen Staates und Vertretern der jüdischen Seite werden am Holocaust-Gedenktag im Bundestag die letzten Buchstaben der restaurierten Torarolle geschrieben – der symbolische Akt ist zugleich Auftakt von „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“.
- Im Juni 2021 wird die Torarolle nach Amberg zurückkehren. Die israelische Kultusgemeinde will sie bei den Gottesdiensten in der Synagoge nutzen.
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