Bahnhof Wiesau einst ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt auf der Süd- und Nordachse

Wiesau
13.11.2022 - 16:21 Uhr
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Der Bahnhof Wiesau wurde im italienischen Stil erbaut und vor 140 Jahren fertiggestellt. Er war einst Verkehrsknotenpunkt, Tor zur Welt und Ankunftsort Tausender Heimatvertriebener nach dem Zweiten Weltkrieg.

Der Bau der Bahnlinie, die auch nach Wiesau führen sollte, gefiel nicht allen. Wiederholt beklagte sich der Wiesauer Pfarrer Joseph Mentner über das „verkommene Gesindel der Eisenbahnarbeiter“ aus Böhmen und Italien. Seiner Meinung nach waren sie negative Vorbilder mit „schlechten Grundsätzen". Offen wetterte der Seelsorger über deren negative Einflüsse auf die Dorfbevölkerung von Wiesau. Mentner folgerte, dass es Jahre dauern würde, um das „ausgestreute Gift wieder unschädlich zu machen".

Die Beschwerden aus dem Pfarrhaus blieben wirkungslos. Der Bau der Bahnlinie und die Verwirklichung eines großzügigen Bahnhofsgebäudes (was Mentner aber nicht mehr erlebte) wurden vorangetrieben. Der vorübergehende Zuzug der Fremden hatte auch eine positive Seite. Freundschaften zwischen Einheimischen und Gastarbeitern entstanden. Dem Einfluss der Fachleute aus dem Süden war es auch zu verdanken, dass der Baustil ihres Heimatlandes in die Gestaltung des Wiesauer Bahnhofs einfließen konnte. Aus manch einem Italiener wurde sogar ein Stiftländer.

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Mitterteich28.02.2021

Der Bahnbau wurde Ende Mai 1882 abgeschlossen. Das Bahnhofsgebäude (mit der alten Hausnummer 114) wurde im gleichen Jahr fertig. Wiesau war zu einem Eisenbahn-Drehpunkt im Stiftland geworden. Nach Eger, Waldsassen, Marktredwitz und Weiden (und jeweils darüber hinaus) bestanden jetzt direkte Eisenbahnverbindungen. Wiesau machte sich die Vorteile zunutze und erlebte einen rasanten Aufschwung. Industrie, Handwerk und Handel siedelten sich an. Namhafte Speditionen gründeten im Bahnhofsumfeld Zweigniederlassungen. Das nahe Tonwerk bekam einen Gleisanschluss. Am Lagerhaus wurden Eisenbahnwaggons be- und entladen. Die aufstrebende Gemeinde war in aller Munde.

Neuer Ortsteil

Das Bahnhofsgebäude entstand nicht direkt im Bereich der bebauten Ortschaft, sondern rund einen Kilometer vom Dorfkern entfernt. Damit schuf man einen für die Ortsentwicklung wichtigen Schwerpunkt und einen neuen Ortsteil: das Bahnhofsviertel. Die zwei voneinander getrennten Ortsteile (Alt- und Neu-Wiesau) wurden erst im Lauf der folgenden Jahrzehnte durch den Bau von Straßen miteinander verbunden. Parallel zum Gleis- und Bahnhofsbau entstanden Bahnwärterhäuschen, beschrankte und unbeschrankte Bahnübergänge. Ferner trieb man die Errichtung einer Wechselwärterkaserne, von Nebengebäuden und zweier Stellwerke aus roten Backsteinen voran. Kilometersteine, Weichen, Flügel- und Vorsignale bestimmten das Bild an den Gleisen. Zudem entstand ein neuer begehrter Berufszweig: uniformiertes Bahnpersonal.

Für die Verwirklichung der Pläne wurde viel Geld in die Hand genommen und Zeit aufgewendet. Die Bahnlinie und auch der Bahnhof in Wiesau entwickelten sich positiv. Einträge im Vorkriegs-Kursbuch vom Sommer 1939 beweisen dies. Damals - so kann man den Angaben entnehmen - hielten in Wiesau elf Schnellzugpaare. Darunter auch der Fern-Express D 22/23 mit Kurswägen nach Rom und Berlin. Ergänzt wurde das dichte Reisezugnetz mit langen Güterwagenreihen. Wiesau war nicht nur zum Eisenbahnknotenpunkt geworden, die Stiftlandgemeinde wurde für viele zu einem Tor zur Welt. Vom Bahnhof aus fuhren die Jugendlichen in die Realschulen nach Waldsassen oder Marktredwitz. Die Mädchen und Buben nutzten ferner die Vizinalbahn, um in das Stiftland-Gymnasium nach Tirschenreuth zu kommen. Der Bahnhof Wiesau war und ist noch heute Ankunfts- und Abfahrtsort für Berufsschüler. Vom Bahnhof aus fuhr man zur Arbeitsstätte. Von Wiesau aus starteten auch die langen Schülersonderzüge, zum Beispiel nach Würzburg, Coburg oder Passau. Pilgersonderzüge wurden nach Altötting geschickt. Der Alpenexpress mit der (ehemaligen) TEE-Diesellokomotive der legendären Bauserie 601/602 legte in Wiesau einen Zwischenhalt ein.

Mit dem Bau der Bahnlinie und des Bahnhofsgebäudes wurde Wiesau auch Standort der Post-Expedition, die zuvor Fuchsmühl innehatte. Der Einspruch aus der Nachbargemeinde, die Entscheidung rückgängig zu machen, wurde vom Oberpostamt Regensburg abgelehnt. Die Expedition Fuchsmühl werde nach Wiesau verlegt, erklärte die Behörde und kündigte eine baldige Umsetzung an. Zudem wurde der Bahnhof auch zum Knotenpunkt des aufstrebenden Telegrafenwesens.

Erstversorgung am Bahnsteig

Eine ganz besondere Bedeutung erlangte der Bahnhof nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Vertreibung begann. Als am 25. Februar 1946 der erste Güterzug mit 1200 Heimatvertriebenen aus dem Sudetenland eintraf, dachte niemand, dass dieser Wintertag zu einem der denkwürdigsten in der Gemeinde werden sollte. Damit begann eine lange Zeit des „Flüchtlingslagers“ (an der heutigen Otto-Kärner-Straße). An den Bahnsteigen wurden die heimatlos gewordenen Menschen erstversorgt, entlaust und in eine ungewisse Zukunft geschickt.

Gaststätten und Restaurant

Wer keine Fahrkarte hatte, aber trotzdem den Bahnsteig betreten wollte, musste (bis zu Abschaffung des Systems) eine Bahnsteigkarte lösen. In den 1960er Jahren kostete das Billett ein Zehnerl. Ein kleiner Zeitschriftenkiosk vor den Gleisen und ein größerer an der Tonwerkstraße (wenige Schritte vom Hauptgebäude entfernt) sorgten für ein besonders Flair. Bereichert wurde das Umfeld von den Gaststätten in der Tonwerk- und Bahnhofstraße und am Bahnhofsplatz. Im Inneren des Bahnhofsgebäudes lockte ein Restaurant. Zur Einrichtung gehörten ein Fahrkartenschalter, Gepäck- und Paketannahme, sanitäre Räume und ein Wartebereich. 1891 und 1926 entstanden die sogenannten "Bahnererhäuser" an der Tonwerkstraße. Aus dem ehemaligen Übernachtungsgebäude für das Zugpersonal (am Bahnhofsplatz) wurde die Bahnmeisterei.

Vor rund 50 Jahren wichen die alten handgesteuerten Stellwerke einem technisch modernen beim ehemaligen Basaltwerk. Im Bahnhofsinneren wurde es langsam still. Personal wurde abgezogen. Fahrkarten konnte man nicht mehr am Schalter, sondern nur noch am Automaten kaufen. Diesellokomotiven ersetzten die schwarzen Dampfrösser.

Seit einigen Jahren gehört das noch leerstehende Gebäude der Marktgemeinde Wiesau. Gemeinsam mit dem Weidener Architekturbüro SHL-Architekten (Dr. Emil Lehner und Uwe Reil) und Handwerkern wird derzeit das auch von staatlicher Seite geförderte Zukunftsprojekt Kulturbahnhof verwirklicht. Symbolischer Spatenstich war am 27. Juli 2021. Mit der Fertigstellung wird 2023, spätestens 2024 gerechnet.

Hintergrund:

Der Bahnhof Wiesau

  • Bahnlinie: Fertigstellung 1882
  • Bahnhofsgebäude: Fertigstellung 1882
  • Knotenpunkt: einst Verbindungen nach Eger, Waldsassen, Marktredwitz und Weiden
  • Startpunkt: auch für Pilgersonderzüge
  • Bedeutung: auch Standort der Post-Expedition
  • Aktuell: Umbau zum Kulturbahnhof - Fertigstellung 2023, spätestens 2024
 
 

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