2 von 130. Das ergibt ziemlich genau 1,54 Prozent. So groß war im bitterkalten Frühjahr 1945 in der westlichen Slowakei die Chance, dass ich, Florian Bindl, geboren 1996, leben durfte. Und mit mir meine gesamte Verwandtschaft mütterlicherseits, die Nachfahren meines Großvaters.
Das ist die Geschichte meines Opas Hans, der mit unfasslichem Glück und einer Portion Mut sein Leben rettete. Er hat lange vor seinem Tod in wenigen Nächten seine Erinnerungen an den 2. Weltkrieg aufgeschrieben. Der Bericht spielt in einer Aprilwoche an der Front im slowakischen Brezova. 100 Kilometer nordöstlich von Wien. Der Krieg taumelte damals auf sein Ende zu. Im Februar war Hans 18 geworden.
Den 8. April überschrieb er bedeutungsschwer mit „Der längste Tag“. Innerhalb von wenigen Stunden, heißt es im Text, „retteten mir eine innere Stimme oder ein Schutzengel gleich mehrmals das Leben“.
Ein Ausschnitt. Seine Einheit mit ursprünglich 130 Soldaten war in einem Wald, als der „Feind“, russische Soldaten, auf sie schoss. Es begann ein Wettlauf gegen den Tod. Mein Opa suchte sich einen Bachlauf und rannte. Darin war er „noch kleiner, als ich sowieso schon war“, schreibt er. Um seine Ohren „pfiffen die Geschosse“.
Dann erreichte die Gruppe den Waldrand. Dahinter: ein steil ansteigendes, frisch gepflügtes Feld. Nun galt es, immer zu zweit, den Hang hinaufzulaufen. Und einfach nicht getroffen zu werden. So zynisch, so brutal. Mein Opa schnappte sich seinen Nebenmann, die beiden liefen los. Tote Kameraden, darunter Feldwebel und Unteroffizier, lagen bereits vor ihnen im Matsch. Noch im Laufen herrschte mein Opa seinen Nebenmann an, mehr Abstand zu halten, um den Russen kein festes Ziel zu bieten. Danach warf Hans seinen Brotlaib aus dem Beutel. Er störte. „Wir liefen und warteten nur, dass wir in den nächsten Sekunden durchsiebt sein würden.“ 128 Kameraden meines Opas starben in diesen Wochen. Nur er und sein Nebenmann, ein Sauerländer, überlebten. 1,54 Prozent.
Genau 50 Jahre danach besuchte Hans den Ort, an dem er dieses Grauen überlebt hatte, noch einmal. Und konnte so mit seiner Vergangenheit vielleicht ein wenig Frieden schließen. Für mich sind diese Zeilen ein kaum zu begreifender Beleg dafür, welches Glück ich habe, am Leben zu sein. Wie dankbar ich sein darf, in einem friedlicheren Deutschland zu leben. Umso mehr schockiert es, was heute wieder in der Ukraine passiert.
OTon
Wir sind junge Mitarbeiter der Oberpfalz-Medien. In unserer Kolumne „OTon“ schreiben wir einmal in der Woche über das, was uns im Alltag begegnet – was wir gut finden, aber auch, was uns ärgert. Dabei geht es weniger um fundierte Fakten, wie wir sie tagtäglich für unsere Leser aufbereiten, sondern um unsere ganz persönlichen Geschichten, Erlebnisse und Meinungen. Wir wollen zeigen, dass nicht nur in Hamburg, Berlin oder München Dinge passieren, die uns junge Menschen bewegen. Alle Teile dieser Kolumne sind zu finden unter onetz.de/oton.
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